Erstellt am: 7. 5. 2011 - 03:01 Uhr
Candy Everybody Wants
Popfest auf FM4
- Tag 4: Die guten Kräfte sammeln sich mit Allstar-Band und Ginga
- Tag 3: Panik sucht den Superstar mit Ja, Panik
- Tag 2: Candy Everybody Wants mit Trouble Over Tokyo
- Tag 1: Affentheater zum Auftakt mit Skero und Gustav
- Videos vom Popfest - Interviews mit Skero, Gustav, Trouble Over Tokyo
Die kleinen Versuchungen sind bekanntlich die hartnäckigsten. Etwa wenn ein Süßigkeitenverkäufer am zweiten Popfest-Tag mit seinem Wagen voller Schaumbecher und Schokolade ganz bedächtig und langsam durch das Publikum wandert, nur, um sie alle geil zu machen mit seinen Kalorienbomben. Ich entsage dem Schaumgebäck, stehe ich doch wie gelähmt am Karlsplatz, gefangen genommen von der betörenden Stimme von Toph Taylor alias Trouble Over Tokyo. Sein "Flames Flicker" kriegt mich jedes Mal, diese kopfstimmenlastige Sirenenhymne, dieses Taumeln in Trance, das Wegdriften in die Abgründe der eigenen Seele. Einfach wunderschön. Die kleinen Versuchungen sind ja bekanntlich die hartnäckigsten. Das Popfest 2011 geht heute in die zweite Runde.
Daniel Eberharter
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Und das an einem Tag, der für das Konglomerat der Label-Giganten kein unwichtiger ist. Die Musikindustrie ist im Umbruch und in der Kunsthalle project space wird am ersten Panel-Tag unter dem Titel "The Angst" eifrig darüber diskutiert, auch über die Sinnkrise des Pop und die der Popkritik. Dazwischen der junge Stürmer und Dränger Lukas Meschik alias Filou und die spannenden M185 mit wunderbaren, vielschichtigen Songgeschichten. Das Bett, in das sich das all das legt, ist das Popfest, schon jetzt eine Institution, ein Get-together nicht nur für Brancheninsider, sondern vor allem für das Publikum. "Gemma Popfest schaun", ein Festival war schon lang nicht mehr so familienfreundlich.
Die stillen Momente
Zurück vor der Seebühne, immer noch in Trance. Wenn Toph Taylor zu seinem "And the fire gets bigger" ausholt und seine Stimme auf hohem Niveau bricht, brechen auch die Herzen. Sein aktuelles Album "The Hurricane" erzählt von einem zum Mensch gewordenen Superhelden, eine dramatische Geschichte über tiefgehende Konflikte und die ewigen Versuchungen des Menschseins. Wenn der Umhang abgelegt ist, bleibt nur die nackte Existenz und in diesem Sinne sind die großen Höhepunkte seines Auftrittes auf der Seebühne gleichzeitig die stillen. Toph im schneidigen schwarzen Anzug allein mit seiner Gitarre, das ist Liebe, das ist softcore pain, Leiden auf hohem Niveau. Das geht mitten ins Herz.
Daniel Eberharter
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Das soll natürlich die hervorragende Band nicht schmälern, die indirekt dafür verantwortlich ist, dass das kleine Märchen des Engländers, der in Österreich weltberühmt wird, wahr geworden ist: Marlene und Rene von Velojet und Markus von Garish am Schlagzeug. Perfekt schmiegen sie sich an die Sounds aus der Apfel-Konserve, wie an das groovige Kinderkreischen in "Operate" oder die schmierige Keyboard-Melodie in "Kryptonite". Leider ist Tophs größter Feind heute das Tageslicht: Ein solcher Auftritt würde mit Laser-Show und beleuchteter Karlskirche mitten in der Nacht ein unglaubliches Event sein. So aber gehen die knackigeren Nummern wie "Save us" im Tumult etwas unter - im Kontrast dazu fallen die ruhigen dafür umso mehr auf. "Psycho Killer" von den Talking Heads wird dazwischen geworfen und wieder überzeugt Toph roh, ohne viel Effekte, ohne großen Soundhurrikan. Es ist die Zebrechlichkeit des Moments, bei der ich immer wieder schwach werde. Da können die in Schoko getunkten Früchte vorbeiziehen, so oft sie wollen.
Die jazzigen Momente
Dort soll alles angefangen haben, in einem kleinen Pornokino in München. Im Hinterzimmer soll Violetta Parisini mit ihrer Band geprobt haben, was sie mit ihrer lieblichen Stimme dabei alles übertönen musste, braucht keine nähere Erläuterung. Das Stimmtraining hat sich aber gelohnt, die Dame aus dem Alsergrund zählt zu den aufregendsten Stimmen des Landes, ihr jazziger Flair zu einer willkommenen Abwechslung im Charts-Brei. Denn mit Parisini können erstaunlicherweise viele etwas anfangen, Jazz verbindet und Violetta wärmt das fröstelnde Publikum mit ihrer warmen Aura. Sie sitzt am Klavier, schließt die Augen, "free at last" lässt sie verlautbaren. Für Violetta Parisini im verdunkelten Jazz-Keller könnte man gut und gerne sterben.
Daniel Eberharter
Violetta bemüht sich, emotionale Balladen wechseln mit swingender Instrumentierung, ihr Album "Giving You My Heart to Men" wird mit all seinen bunten Farben präsentiert. "The Blackest Coffee" heißt hier das schönste Stück. Das Saxophon schlängelt sich währenddessen in den sich langsam verdunkelnden Himmel, eigentlich die kitschigste, urbane Vorstellung, die es gibt. Aber tatsächlich ist dieser Sound von weitem wie die Flöte des Schlangenbeschwörers. Versuchungen, wohin man hört. Coshiva kommt als Gast vorbei, jetzt würde man die beiden inklusive Seebühne am liebsten ins Wohnzimmer verfrachten, nur, um ein paar Minuten allein mit dieser Musik zu sein. Am Ende holt sie uns wieder brutal in die Realität zurück. Zwei kleine Kinder hätten ihre Eltern verloren und würden in einer Polizeistation auf sie warten.
Die Momente unterm Baum
Zugegeben, auf Café Olga Sánchez muss man sich erst einlassen.
Daniel Eberharter
Daniel Eberharter
Der Wechsel zwischen den Genres und Stilen beim Popfest erfolgt im Stundentakt und der bunte musikalische Mix aus französischem Chanson, Pop, Hip Hop, südosteuropäischer Balkanmusik und jiddischem Klezmer ist gewöhnungsbedürftig. Aber dann tut sich langsam was, Sprachgrenzen werden mit Fortdauer überwunden. Was zu verstehen ist, ist nicht unbedingt eine poetische Glanztat ("Mir gefällt dein Lächeln, komm her, komme unter diesen Baum, denn die Sonne scheint schon"), aber Sprache ist hier nur eine Facette. Der Rhythmus geht nicht in den Kopf, sondern ins Blut, die Puppen tanzen, während leblose Exemplare auf der Bühne richtig scary aussehen.
Schon gestern hatte man bei SK Invitational das Gefühl, ganz Wien hätte auf einer Bühne Platz. Und bei Café Olga Sánchez ist es ganz Europa, der Geruch von "Orangenfrucht und Olivenbäumen" verbreitet sich, Getränke werden in gastfreundlicher Manier an die ersten Reihen verteilt.
Die ruhigen und reduzierten Momente wechseln mit einem verspielten Feuerwerk ohne Scheuklappen, bei der die Combo selbst immer wieder das Tanzbein schwingt. Dazwischen hört man immer wieder universelle Schlagworte wie "Calypso" oder etwas, das Kollege Einöder als "Tottenham" ausmacht (warum auch nicht?) - die Band ist halt irgendwie Lost in Translation. In diesem Sinne darf sie in einem Moment sogar gefährlich nah am Plagiat vorbeischrammen, würd ich es nicht besser wissen, stibitzen sie an einer Stelle das Riff von "Californication" der Red Hot Chili Peppers. Musik lässt den Plagiatswahn aber vergessen.
Daniel Eberharter
Und danach geht's ab in die Uni. "Endlich mal ist auf meiner Uni mal was los", schreibt eine Userin auf Facebook. Sie meint den Prechtlsaal der Technischen Universität Wien, wo Bo Candy und seine Broken Hearts und Skeros Hip Hop-Gipfel die restliche Nacht gestalten.
Thomas Pronai kennt man eigentlich als Teil der Beautiful Kantine Band, seit es diese allerdings nicht mehr gibt, zieht er als Bo Candy mit den gebrochenen Herzen (u.a. Julian Schneeberger von Garish) durchs Land. Die Musik der Band ist ein elektrisierender Bastard aus Country, Folk und Blues, eine John Wayne-Erinnerung an all die Cowboys und -girls mit ihren dreckigen Stiefeln. Judith Filimónova gehört zu den besten Bassisten des Landes und vervollständigt ein Line-Up, das irgendwie in der Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Es ist laut, es ist rockig, aber es ist auch nostalgisch, staubig und irgendwie sexy.
Daniel Eberharter
Es wird gemunkelt auch die Herren, die danach kommen, seien nicht unsexy. Kamp, Kayo, MA 21, präsentiert von Skero, wacker begleitet von DJ Phekt. Storytelling auf Österreichisch, die Menge ist rauschig und wird vermutlich noch bis in die Morgenstunden den alten Prechtlsaal zerlegen. Die Versuchungen lauern wirklich an allen Ecken.