Erstellt am: 16. 2. 2011 - 20:28 Uhr
Jardim Gramacho
- Schwerpunkt auf FM4: Re-using und Recycling: Das Programm im Überblick
- Die Auferstehung des Mülls (Irmi Wutscher)
- Computerschrott Christoph Weiss über IT-Sondermüll
- Ein Ausflug zur Salzburgs größter Abfallbeseitigungsstelle (Barbara Meikl)
- Jardim Gramacho: Zwei Dokus über Rios Müllstadt (Natalie Brunner)
Jardim Gramacho ist, behaupten viele, die größte Müllkippe der Welt. Wenn sie das nicht ist, dann zumindest die größte Lateinamerikas. In Jardim Gramacho und drumherum hat sich eine eigene Siedlung gebildet: Täglich kommen hier mehr als siebentausend Tonnen Müll an, zwanzigtausend Menschen wohnen dort. Sie überleben, indem sie Wiederverwertbares oder Pfandprodukte aus dem Müll sammeln. Ihre Wohnungen sind Hütten aus Holz, Pappe und Müll, auf den Müllbergen errichtet und ohne Sanitäranlagen.
Immer wieder kommt es zu Unfällen weil ein Müllberg abrutscht und sammelnde Menschen unter sich begräbt. Erst letzte Woche wurde ein Müllsammler von einem Lastwagen überrollt. Die Monstrosität diese Ortes ist schwer in Worte zu fassen. Müll bis zum Horizont und schwarze Geier, Urbubu, die permanent kreisen und nach Verwertbarem in den Bergen picken. Kommt stärkerer Wind auf, sieht es manchmal so aus, als würde es Plasticksäcke regnen. Am eindringlichsten aber ist der Gestank, der über der ganzen Gegend liegt.
marcos prado
Filme übers Überleben im Müll
Das Überleben in Jardim Gramacho ist Thema von zwei Dokumentarfilmen:
Estamira ist auf Videoportalen mit englischen Subtiteln zu finden. Waste Land ist für den Oscar für die beste Dokumentation nominiert und erscheint dieser Tage auf DVD.
Estamira von Marcos Prado aus dem Jahr 2004 ist das ästhetisch und inhaltlich überwältigende, zu tiefst ergreifende und poetische Portrait der Müllsammlerin Estamira.
Waste Land von Lucy Walker aus dem Jahr 2009 begleitet den brasilianischen Künstler Vik Muniz nach Jardim Gramacho, um Gutes zu tun. Letzterer ist für den Oscar in der Kategorie bester Dokumentarfilm nominiert und gerade auf DVD erschienen.
Zwei Filme, die ähnlich sind, aber unterschiedlicher nicht sein könnten. Über einen Ort, der für Mitteleuropäer wirkt, als sei er aus dieser Welt hinausgefallen, der aber Normalität ist, für die 40 Prozent der Weltbevölkerung, die z.B. keinen Zugang zu sanitären Anlagen haben. Während Estamira eine von innen kommende Perspektive auf eine mir unbekannte, grausam-apokalyptische Realität ist, muss ich mich über den ästhetischen und inhaltlichen Sensationalismus von "Waste Land" wundern.
marcos prado
Estamira Prophetin des Müll
Die ersten Szenen von "Estamira" erinnern an Videos, die Anton Corbijn in den 80er Jahren für Joy Divison gemacht hat. Eine einsame Gestalt wandert durch eine völlig leere Mondlandschaft. Isolation und Eiszeit der Seele, schwarze Vögel kreisen und im Off hört man die Stimme dieser älteren Frau, die ihr Leben in unserem Müll verbracht hat und auf eine sehr entlarvende Weise einen wahrheitstriefenden, kapitalismuskritischen, schizophrenen religiösen Wahn gebildet hat.
Marcos Prado, der Regieseur hat Estamira getroffen, als er einen Bildband über Jardim Gramacho vorbereitet hat. Eine wahnsinnige Prophetin des Mülls, die ihre Wahrheiten in die Welt murmelt. Auf der Website des Films beschreibt er sie folgendermaßen: „living like a prophet of the dump, screaming out the values lost in our society, fighting agianst religion, sanity , hipocrisy, creating neologism and philosophical metaphors to express herself.“
marcos prado
Prado hat die Müllsammlerin vier Jahre begleitet und ein Jahr an seinem Film geschnitten. Im Laufe der hundertfünzehn Minuten, während der nur Estamiras Stimme zu hören ist, taucht man ein in den Sog ihrer Gedanken. Sie wird von einer verwirrten älteren Frau zu einer fast mythologischen Totengräberin des Kapitalismus. Wenn sie uns etwa erklärt, dass alle Schöpfung, genau so wie aller Verfall reine Abstraktion ist und sie das noch einzig Reale.
marcos prado
Ihr innerer Monolog, die Sprache von jemandem, der sein Leben auf Müllbergen verbracht hat, berührt tiefe substantielle Fragen über Sein und Tod, Verfall und Leben. An ihrem Delirum kann man erahnen, was eine solche Existenz einen Menschen antut.
Marcos Prados Bilder aus Jardim Gramacho sind überwältigend und erdrückend zugleich. Ein weißer Pfedekadaver wird mit einem Kran in die Müllberge gehoben; ein Sturm kommt auf und die Arbeiterinnen, die im Müll nach recyelbarem suchen, schützen ihre Gesichter gegen den Plastiksack-Taifun. Die Schutzlosigkeit und die Fragilität der Figuren berührt tiefer, als die sensationlistisch inszenierten Tränen der verzweifelten Mutter, die in "Waste Land" von ihem toten Kind erzählt.
Einmal sieht man auch eine nackte Frauenleiche im Müll liegen, die MüllsammlerInnen stehen fast beiläufig drumherum. Es ist Normalität, dass so etwas geschieht, und sich niemand darüber aufregt. Das schmerzt und schockiert mehr, als das hektische Geschnatter der Leute, die in Waste Land erzählen dürfen, dass auch die Verbrechersyndikate von Rio hier ihren Müll loswerden.
Estamira nimmt uns mit in ihre Hölle. Der Film gibt den ZuseherInnen Zeit und Raum, zu realisieren, was für Monstrositäten sie sehen, anstatt - wie "Waste Land" - auf die fernseherprobte Tränendrückschiene zu gehen.
Waste Land : Popcornkino des Elends
Vik Muniz, das wird zu Beginn von "Waste Land" gleich mehrmals klar gestellt, ist einer der größten zeitgenössischen Künstler Brasiliens. Er lebt seit dreißig Jahren in New York, ist aber an einen Punkt seiner Karriere angelangt, an dem es ihm nicht mehr reicht, dass seine Kunst etwas abbildet oder eine Idee vermittelt. Er möchte, dass durch seine Werke das Leben der Porträtierten oder in irgendeiner Form an dem Prozess Beteiligten auch tatsächlich geändert wird.
vik muniz
Für seine "Pictures of Garbage" hat er Müllpflücker von Jardim Gramacho photographiert, ihre Bilder von ihnen selbst in einem riesigen Format aus Müll von Jardim Gramacho nachbauen lassen und das Ganze wiederum photographiert. Der Erlös aus dem Verkauf der Bilder kommt den Porträtierten zu Gute und hat so einer Handvoll Menschen geholfen, ein neues Leben zu beginnen.
WASTE LAND Official Trailer from Almega Projects on Vimeo.
Waste Land ist eine Dokumentation über ihn und sein Projekt im Jardim Gramacho. Die Dokumentation der US-amerikanischen Regisseurin Lucy Walker gibt vor, Muniz von Anfang an, von der Geburt der Idee zu begleiten.
vik muniz
An den schweren inhaltlichen Fehlern und Muniz begrenztem Talent zur filmischen Lüge scheitert der Authentizitätsanspruch schon in den ersten fünf Minuten. Muniz ruft den Leiter seines Büros in Rio de Janeiro an und die beiden Brasilianer diskutieren auf englisch, wie sie das Projekt angehen wollen.
vik muniz
Es folgen Sequenzen, die Muniz bei der Planungsarbeit zeigen. Sätze wie: "Jardim Gramacho ist der Ort, an dem der ganze Müll, auch der menschliche Abfall landet" werden aus dem Kontext der Konversation herausgerissen, und sorgen in dem kleinen Programmkino in Rio, in dem ich den Film sehe, für ziemliches Gemurmel. Es wird in dem uns gezeigten Teil der Konversation nicht klar: Zitiert Muniz hier das, was er für den gesellschaftlichen Konsens hält oder ist es seine Meinung? Bei einer Aussage von derart menschenverachtender, zynischer Grausamkeit ist es unseriösvon der Regisseurin, nicht klar zu zeigen, in welchem Kontext dieser Satz gefallen ist. Muniz, an dessen Integrität ich keine Zweifel hege, wird in diesem Film zu einem platten, selbstgefälligen, Aufmerksamkeit heischenden Wohltäter stilisiert. "Waste Land" tut weder seinem Werk noch seiner Person einen guten Dienst.
vik muniz
Lucy Walker hat wohl "Estamira" gesehen und versucht sich an der Blockbuster-Version der Geschichte der Müllmenschen, aufgefettet durch die Figur des ambitionierten Künstlers, der die Welt verbessern will und dem sein Experiment nach vielen vergossenen Tränen der Müllmenschen auch gelingt. Es gibt eine Szene, in der Muniz mit der Kamera in der Hand über die Müllberge stapft. Der Gestus ist klar: der Retter reitet ein.
Ich habe Probleme mit dem ideologischen Ansatz von "Waste Land". Es ist ein Denken der Wohltat, etwas Missionarisches, Kolonialistisches. Die Menschen von Jardim Gramacho werden als miserable und bemitleidenswerte Objekte gezeigt, an denen Gutes vollbracht wird. Es ist ein hierarchischer Blick von oben, der im totalen Widerspruch dazu steht, was Muniz in Interviews sagt; nämlich "dass das Schrecklichste an der brasilianischen Gesellschaft ist, dass es tatsächlich Menschen gibt, die glauben sie sind besser als Andere.“
Lucy Walker lässt die MüllsammlerInnen von Jardim Gramacho ihre persönlichen Apokalypsen vor der Kamera tränenreich erzählen, um uns nach einer sensationalistischen, skrupellosen Logik zu emotionalisieren. Wie sie verlassen, ausgenutzt, ausgestoßen wurden, wie ihre Kinder in Krankenhäusern nicht behandelt wurden und dann auch in Müllsäcke gepackt wurden. So sehr mir dieser Ansatz zuwider ist, auch ich habe einmal geschluchzt. Das Team begleitet Suelem, eine 18-jährige, zweifache Mutter in den Verschlag aus Müll auf dem Müll, den sie für 7 Euro die Woche mietet und ihr Zuhause nennt. Sie macht sich schick, um ihre Kinder zu besuchen, die Stunden entfernt bei der Großmutter leben. Sie benutzt Kosmetik-Artikel, die sie im Müll gefunden hat, und wie einen Schatz im Verschlag aufgestellt hat: verdreckte Flaschen mit dem Bodensatz irgendeiner Creme.
vik muniz
Aber jetzt ist ja alles gut. Vik hat seine Kunst versteigert, wir sehen die Müllsammler noch einmal, wie sie ehrfürchtig die Ausstellung von Muniz im Museum der Modernen Kunst besuchen, und noch einmal ein bisschen vor der Kamera vor Dankbarkeit und Rührung weinen. Im Nachspann erfahren wir, dass die eine Dame ein kleines Restaurant hat, die 18-Jährige ist inzwischen 19 und hat drei Kinder und einen netten Mann, der sich um sie kümmert. Tiao, der eine Kooperative der MüllsammlerInnen gegründet hat, wird in Talkshows geladen. Alles gut für fünf von zwanzigtausend. So funktionieren Märchen, aber keine Dokumentationen
Das Leben von einigen Menschen geändert zu haben, kann Vik Muniz schon hoch angerechnet werden. Das macht aber "Waste Land" keineswegs zu einem guten Film.