Erstellt am: 4. 2. 2011 - 16:14 Uhr
"Ein Gefühl von Sieg, Bedeutung und Relevanz in uns allen"
Die Aufstände in Ägypten nahmen ihren Anfang eigentlich 2.000 Kilometer westlich, in Tunis. Konnte das wirklich wahr sein? Setzen sich Selbstbestimmung und Demokratie, Volkswille und Gerechtigkeit in einem Land im Nahen Osten durch?
Dann der Anlass auch in Ägypten etwas zu unternehmen. Nach Jahren der Autokratie, Willkür, Notstandsgesetzgebung, der Militärgerichte und des Unrechts, nahm Ägyptens Jugend den nationalen Feiertag zu Ehren der Polizei, den 25. Januar, zum Anlass, um auf die Straße zu gehen. All meine Freunde unterstützen die Bewegung. Bis heute. Ich hatte Fieber und konnte nur vom Balkon aus nachverfolgen, was auf den Straßen an diesem Tag vor sich ging. Viele Verletzte, erste Tote, und doch auch die Hoffnung, dass in Ägypten der Samen der Selbstbestimmung zu keimen beginnt.
EPA/AMEL PAIN
Ich bin seit Mitte September in Ägypten, und wohne seit Anfang Dezember in der El-Bostan Straße in der Stadtmitte Kairos, bei der Familie meines Vaters, der seit 30 Jahren in Deutschland lebt und arbeitet.
Die Tage nach dem 25. Januar waren gezeichnet von starker Polizeipräsenz. An jeder Straßenecke standen Zivilpolizisten. Hinzu kamen Hunderte angsteinflößende Polizisten mit Schlagstöcken und Schildern. Alles wartete auf Freitag, den 28. Januar. Wie jeden Freitag waren die Straßen voll. Der "Tag des Zorns" war im Internet organisiert worden, aber das Regime schaltete Donnerstagabend Internet und Handy völlig ab.
Gemeinsam mit einem deutschen Freund und einigen ägyptischen Freunden ging ich zu einer Moschee in Mohandessin, einem Ausgangspunkt der Demonstrationen. Mit dem letzten Murmeln der Gebetsverse und dem letzten Aufstehen im Gebet bildete sich der erste Aufschrei gegen Mubarak und sein 30-jähriges System. Junge hochgebildete Ägypterinnen gingen neben normalen ägyptischen Familienvätern Richtung Nil, um den Tahrir-Platz zu erreichen. An der Brücke Kobri Qasr Al-Nil angekommen, stellten sich uns Hunderte Polizisten in den Weg. Tausende Kanister starken Tränengases regneten auf die Straßen Kairos. Auch auf mich. Husten, Tränen, Atemnot, Schmerzen. Tränengas verursacht mehr als nur Unwohlsein, es verstärkt unser Unverständnis und die Ablehnung gegen das Regime.
Nachdem wir auf die Brücke vorgedrungen waren, schossen die Sicherheitskräfte mit ihren Tränengasgewehren direkt in die Menge. Meine kleine, mit fünf Stichen hinter dem Ohr genähte Platzwunde verschwindet neben den menschlichen Schicksalen. Ich wurde auf der Brücke aus wenigen Metern Entfernung von einem Polizisten mit einer Tränengaskartusche angeschossen. Im Krankenhaus erzählte mir der behandelnde Arzt, dass ein Mädchen von einer Tränengaskartusche an der Stirn getroffen wurde. Sie ist eine von 300 Toten an diesem Tag. Mit dem Abzug der verhassten Polizei und der Ankunft des Militärs am Freitagabend vergangener Woche kam Ruhe in die Stadt. Abends konnten wir den Rückzug der Polizei aus der Stadt genießen. Von da an entwickelte sich ein Gefühl von Sieg, Bedeutung und Relevanz in uns allen. Es fühlte sich an wie Frühling. Alles scheint möglich. Wenn der Präsident spricht, wird er die Stimmen der Straße hören müssen. Der Präsident stellt sich taub.
Die eigentlichen Momente der Revolte
Viel Zeit verbringt man vor dem Fernseher, wartend auf Neuigkeiten. Das Internet blieb bis 2. Februar abgeschaltet. Die Handys funktionieren nach einem Tag der Ungewissheit um das Verbleiben der Bekannten und Verwandten wieder. In den elf Tagen, seit denen Ägypten stillsteht und sich doch alles verändert, habe ich, haben wir hier alle Gefühlslagen durchgemacht. Angst, Wut und Unverständnis. Aber auch Hoffnung, Freude und Zuversicht. Oft wechselten die Gefühle stündlich.
- Die ägyptische Revolution via Satellit (Erich Moechel, 4.2.2011)
- The revolution will be live (Martin Blumenau, 28.1.2011)
- FM4 Reality Check - Alle Radiobeiträge zum Anhören im jeweiligen Tagesprogramm
Ich gehe jeden Tag zum Platz, versuche so viel wie möglich mitzubekommen. Wer die Szenen auf dem Platz gesehen hat, der weiß, dass gegenseitige Verantwortung, Würde und Zuneigung die eigentlichen Momente der Revolte sind. Erst als am Mittwoch die ersten Mubarak-Unterstützer mit ihren gekauften Schlägertrupps auf dem Platz stürmten, wurde es wieder gewalttätig. Am Donnerstag ähnelte der Platz einem Lazarett. Viele Verletzte, wenig Sprechchöre. Keiner wollte mehr schreien, weil man wusste, dass der kommende Tag der Tag ist, an dem Ägypten brennen könnte.
Hannibal Hanschke
- Perspektiven für Ägypten (Sammy Khamis, 5.2.2011)
Alle Befürchtungen, dass der heutige Freitag in einem Massaker enden wird, haben sich nicht bestätigt. Bis Freitagmorgen waren noch Mubarak-Unterstützer in der Nähe des Platzes. Ab jetzt, seit Mittag, nach dem Gebet, sind wieder die Demonstranten auf dem Platz. Die Helden der letzten Woche. Das Militär versichert, dass keiner verletzt werden soll. Und die Forderungen gehen weiter. Mubarak hat noch einige Stunden bis zum Ende des Ultimatums, das ihm die Demonstranten stellen. Sollte er nicht abdanken, wird Ägyptens Jugend Richtung Präsidentenpalast ziehen.
Ich werde am Sonntag das Land, das ich in den letzten Monaten kennengelernt habe, verlassen. Nicht weil ich Angst habe. Im Gegenteil, ich habe hier eine schöne Zeit mit großartigen Menschen verbracht. In Deutschland warten Studium und Arbeit auf mich. Ich gehe mit Wehmut, und wer mit diesem Gefühl geht, wird sehr bald wiederkommen.