Erstellt am: 28. 1. 2011 - 19:32 Uhr
Journal 2011. Eintrag 24.
Das Jahr 2011 bietet wieder ein Journal, ein fast tägliches, wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009. Dazu komplettieren etliche Einträge ins Fußball-Journal '11 die diesjährige Blumenau-Netz-Präsenz.
Zumeist wird es hier Geschichten/Analysen geben, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo gefunden habe; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Egal, wie sich die Lage in Ägypten heute noch entwickelt, ob sich das autoritäre Regime Mubarak halten kann oder nicht - wir sehen hier bei einer historischen Entwicklung zu. Und für Europa stellen sich nach diesem zweiten norafrikanischen/arabischen Umbruch innerhalb weniger Tage ein paar entscheidende Fragen, ähnliche wie anläßlich der Jasmin-Revolution in Tunesien.
Wäre diese Revolution ohne die neuen Kommunikations-Tools & Medien möglich gewesen? Handelt es sich um einen Aufstand einer präkarisierten Jugend ohne Zukunft? Ist das eine Revolte eines durch die wirtschaftliche Misere an den Rand der Existenz gedrängten Mittelstands?
All diese Fragen haben massiv mit unserer, mitteleuropäischen oder österreichischen Gegenwart zu tun - wenn auch unter teilweise anderen Vorzeichen. Hierzulande drängelt die sich entrechtet fühlende Mittelschicht ins Autoritäre, in eine Post/Security-Demokratie und die Macht von Social Media zeigt sich aktuell nur in einer Tratsch&Kicher-Kultur.
Die Frage nach dem demokratischen Potential des www stellt sich, nach der großen Wikileaks-Debatte rund um den Jahreswechsel anläßlich der nordafrikanischen Widerstands-Welle (von der auch Algerien bereits betroffen war) ein zweites Mal.
Die überschätzte Innenwirkung von Al-Jazeera
Heute mit ein paar Notizen zur aktuellen Lage in Ägypten und der Frage, inwieweit die neuen Medien, Blogs, Social Networks und Kommunikations-Technologien da eine Rolle spielen.
Mehr dazu auf fm4.orf.at:
- Chat like an Egyptian: The social network lets us be part of a possible revolution (Riem Higazi)
Dichter/Sänger Gil Scott-Heron, dessen Zeile aktuell gerade heftig zitiert wird, legt im übrigen Wert auf die Tatsache, dass er seinen The revolution will not be televised-Text eigentlich gegenläufig definiert.
Der Unterschied zum Fehlschlag des versuchten Twitter-Aufstands der iranischen Jugend aus dem Vorjahr ist die geopolitische Ausrichtung der nordafrikanischen Länder - sie können und wollen sich keine komplette Isolierung der Sorte Ahmadinedschad leisten.
Nach außen hin stellt sich Al-Jazeera als bedeutendster Träger einer demokratischen Fackel dar. Und für den nicht-ägyptischen Beobachter sind sie auch die wertvollste und direkteste Informations-Quelle - der Al-Jazeera-Livestream ist unersetzbar.
In Ägypten selber hat der Sender eine geringe Bedeutung - die Widerständler verlassen sich da eher auf BBC Arabic. Das hat zum einen, um einen meiner ägpytischen Informanten zu zitieren, mit dem Ausgangspunkt zu tun: "Al-Jazeera wird vom autoritär regierten Katar kontrolliert - was wollen die uns über Demokratie erzählen?"
Dazu kommt, zum zweiten, das tiefe Mißtrauen das zwischen Ägypten und dem Rest der arabischen Welt seit Sadats Friedensvertrag mit Israel herrscht, und sich in seitdem schwelenden politischen Spannungen spiegelt. Dazu passt es ganz gut ins Bild, dass Al-Jazeera bei seiner aktuellen Berichterstattung immer wieder Mitglieder der radikalen Moslembrüderschaft zu Wort kommen lässt, deren primäres Ziel eine islamische Republik ist. Die Moslembrüder sind deutlich stärker als etwa ihre tunesischen Äquivalente, können aber nur auf eine schwache Basis zurückgreifen. Im außenhandelstechnisch und touristisch stark mit dem Westen verschränkten Ägypten wird sich das in absehbarer Zeit nicht ändern, auch wenn die konservativen Golf-Regime (allen voran Saudi-Arabien) massiv Mittel ins Land pumpen (in einer Art Gegengeschäft mit stärkerer Beachtung des Islam).
Die Demokratisierung des Medien-Zugangs
Al-Jazeera gilt also als Sprachrohr dieser Interessen, und weil die Ägypter, die sich seit Wochen auf der Straße befinden, nicht die Islamische Republik, sondern ganz pragmatisch eine Verbesserung ihrer Lebenssituation durch die Abschaffung eines korrupten und kleptokratischen Systems fordern, eindeutig nicht als Sprachrohr der Bewegung.
Al-Jazeera berichtet für die Welt und den arabischen Raum - was auch wieder eine Menge an Folgewirkung auslösen wird.
Um hier noch kurz auf die Lebensrealität der Revoltierenden einzugehen: wenn man durchschnittlich umgerechnet einen Euro pro Tag verdient, ein Kilo Fleisch aber zehn Euro kostet und man dann erfährt, dass ein Mubarak-Gefolgsmann eben zwei Rinder schlachten liess um damit seine Hunde zu füttern - dann geht man aus den wahrscheinlich nachvollziehbarsten Gründen der Welt auf die Straße.
Hier noch der direkte Link zum Live-Stream des 24/7 berichtenden Al-Jazeera.
Der Kitt der die Menschen in Ägypten aktuell zusammenhält sind, ganz simpel, aus den neuen Kommunikations-Medien. "Das, was wir früher erst Tage oder Wochen später als Gerüchte erfahren haben," sagt einer meiner Gesprächspartner, "wird jetzt in Sekundenschnelle weitergereicht. Wenn etwas passiert, stehen die Bilder sofort im Netz."
Klingt unendlich banal - und ist es auch, wenn es sich, wie in Österreich, um Party-Grimassen-Pics handelt. Wer aber die Demokratisierung des Medien-Zugangs in diesem Tempo, dem eines überwältigenden Crash-Kurses mitmacht, dem gibt es eine machtvolle Waffe in die Hand - die Vernetzung einer Protest-Bewegung über Facebook, Twitter und Co ist weitaus mehr wert als eine herkömmliche Bewaffnung. Und es ist in einer Gesellschaft, die zwar gewohnt ist in autoritären Strukturen zu leben, sich aber nicht von einer raffgierigen Oligarchie zu Hungerleidern runterwirtschaften lassen will, purer Sprengstoff.
The revolution will be no re-run, brothers
Dass es die Tradition des Freitags-Gebets war, die heute die Funken sprühen liess, allen dümmlichen Mobilfunk- und Internet-Abschaltungen zum Trotz, ist ein Treppenwitz der Geschichte: die Religion ist es, die alle Einwohner gleichzeitig auf die Straße bringt - und dort ist dann keine Live-Verabredung via Handy oder Social-Webdienst notwendig um sich zu vernetzen.
Die Fortsetzung am Wochenende hier bei Möchel.
Und das ist, zumindest heute, die interessanteste Botschaft: dass die Vernetzung durch Social Media und die Blogosphere auch dann noch greift, wenn sie die Staatsmacht unterbindet.