Erstellt am: 11. 7. 2010 - 19:44 Uhr
Von Mogelpackungen, Autopannen und gestohlenen Koffern
Exit Festival 2010 auf fm4.ORF.at
- Teil 1: In Novi Sad, wo das Exit Festival stattfindet, wohnen die nettesten Menschen der Welt.
- Teil 2: Beim ersten Blick auf das Exit Line Up hat mich ein Name überzeugt, mein Köfferchen zu packen: Suicidal Tendencies.
- Teil 3: LCD Soundsystem, DJ Shadow, die Antwoord, Placebo und Moderat
- Teil 4: Von Mogelpackungen, Autopannen und gestohlenen Koffern. Die Opfer Missy Elliott, MS Dynamite und Röyksopp.
Das Festivalgelände zu betreten wird immer lustiger. Heute gibt es nach der Kontrolle der Eintrittsbands nicht nur Taschen Durchwühlen durch die Polizei, sondern auch dezente Verhörfragen. "Why do you have this in our bag?" Fragt mich die Polizistin, als sie den Müllsack mit Kleidung sieht. Da mir Kollege Johnny Bliss erzählt hat, er habe sich mit einem Mädchen unterhalten, das einer Leibesvisitation unterzogen wurde, und ich nicht so auf Gummihandschuhe in Körperöffnungen stehe, halte ich mich zurück und erkläre grinsend, dass ich deshalb Pullover mithabe, weil mir schnell kalt wird. Auf die Frage "Do you work here?", fällt mir nichts besseres ein als: "Kind of." Scheiße, ich hoffe, das klingt nicht nach Provokation. Nein, sie grinst und wünscht mir viel Spaß.
Möge der Spaß beginnen.
Lukas Hollenstein
Die ersten Herren, die ich an diesem Tag kennenlerne, haben ebenfalls Probleme mit Autoritäten und hören auf den Namen Midnight Juggernauts. Sie touren gerade mit ihrem neuen Album "Chrystal Axis" durch die Gegend. Ganz oben auf ihrer Liste: Fluglinienmitarbeiter, die sich bei jedem Einchecken andere Übergewichtstarife für Bandequipment einfallen lassen, und australische Zöllner. Gestern haben sie beim Jazzfest in Montreux gespielt und wollten sich eigentlich: "I played Montreux and all I got is this lousy tattoo"-Tätowierungen machen lassen. Glücklicherweise ging die Tatoomaschine direkt vor ihnen kaputt. Deshalb die Lucky-Luke-Rubbeltattoos auf ihren Unterarmen. Über Lucky Luke kommen sie auf Asterix und Korsika zu sprechen und erzählen mir, dass sie dort gerne hinziehen wollen, um näher an Paris und der Ed Banger Posse zu sein. Die sind ihnen nämlich herz- und hirnmäßig näher als alles, was in ihrer Heimatstadt Melbourne so abgeht. "Euphoric hammering together of krautrock grooves, psychedelic flights of melodic fancy and post-Justice grindy synth noises", das hat sich jemand als Subgenre für die Midnights Juggernauts einfallen lassen. Ich mag solche Interviewpartner.
Lukas Hollenstein
Vor dem Zelt nimmt die Hektik zu: Frauen in pink Latexkleidern, die mehr an Fasching in Kagran als an Peaches erinnern, interviewen sich stundenlang gegenseitig und Kamera-Teams filmen alles, was da rum kreucht und fleucht. Ich rolle mich in Embryonalstellung unter einer Europalette zusammen und warte auf weitere Interviews. Der sehr nette Pressemensch von den Klaxons kommt und entschuldigt sich, weil ich sie nicht interviewen werde, da man sich gestern das Album in Beisein der Plattenfirma anhören hätte müssen, um mit ihnen zu sprechen. Da ich Foreign Media und auf anderer Liste bin, hat man mich vergessen. Kein "Surfing the Void" für mich, die Plattenfirma zuhause kann mir sicher helfen. Er scheint einigermaßen erstaunt zu sein, dass ich ihn nicht beschimpfe oder mich weinend im Gras wälze. Ich finde es ganz gut, dass Bands auf diese Art ausschließen, stundenlang beantworten zu müssen, auf welchen Festivals es die besten Hot Dogs gibt.
Zum Trost drückt mir der Pressebetreuer des Festivals einen Wisch zum neuen Röyksopp-Album in die Hand, damit ich sie nicht frage, wo es die besten Hot Dogs gibt. Röyksopp veröffentlichen im September ein neues Instrumentalalbum namens "Senior". Es hat - wie der Titel verrät - etwas mit ihrem Album "Junior" zu tun. Sehr Gut: Alter und Verfall - eines meiner Spezialgebiete.
Ich konstruiere im Kopf schon eine Brücke, wie ich Röyksopp eines meiner Hannah-Arendt-Lieblingszitate vor den Latz knallen kann. Altern bedeutet nicht, dass man sich verändert, sondern die Welt um einen herum löst sich auf. Alle bekannten und geliebten Gesichter verschwinden langsam bis man völlig von Fremden umgeben ist, schrieb Frau Arendt sinngemäß.
Als es dann soweit ist, habe ich Skrupel, weil Röyksopp gar so nett und fröhlich sind. Ich frage sie nur, ob bei der Idee ein Album namens "Senior" zu machen Angst vorm Altwerden mitspielt. Nein, es sei der Limbo zwischen Alter und Jugend, in dem wir herumschwimmen, der sie interessiere.
Lukas Hollenstein
15 Minuten später sind sie auf der Bühne. Sie beginnen mit einem Track von "Melody AM", "Eple", an dem sie ordentlich herummodulieren. Röyksopp tragen Masken und werden von hinten beleuchtet. Von Zeit zu Zeit kratzt Strobo meine Netzhaut. Es sind die Chemical Brothers für Sensible. Romantische elektronische Popmusik, einsetzbar von der Pubertät bis zur Menopause. Scheiße, ich sollte nicht zuviel über das Junior-Senior-Konzept nachdenken. Ich trotte zum Ms Dynamite Interview. Sie ist nicht hier, sondern versucht um Mitternacht in einem Shopping Center in Novi Sad Klamotten für ihren Bühnenauftritt zu finden. Die Fluglinie hat das Gepäck verschmissen. Das ist den Bad Brains auch schon passiert. Für die ist das aber weniger dramatisch als für Ms Dynamite, vermute ich mal. Sehr neugierig, was sie um zwei Uhr morgens auf der Bühne tragen wird, bereite ich mich mental auf das Eintreffen der Leading Lady of Hip Hop vor: Misdemeanour Elliott.
Was die tut, wenn man ihr Eigentum verschmeißt, weiß man ja.
Die Ernüchterung gleich vorweg: Wenn ihr vorhabt, mehrere tausend Kilometer zu fahren, um Missy zum Beispiel im VIP Room St. Tropez spielen zu sehen, dann könnt ihr euch das sparen.
Lukas Hollenstein
Das kleine Lästermaul, das diese Zeilen schreibt, ist nach wie vor bekennender Missy Elliott Fan: LP, Single, Videosammlung und Respect M.E Fransenjacke aus ihrer Kollektion im Schrank. All der Klimbim, der zum Fangirltum dazugehört, findet sich in meinem Haushalt. Missy ist eine hervorragende Musikerin und ich fand es auch immer sehr gut, wie sie in der Öffentlichkeit auftrat, mit Menschen umging, über andere Künstler sprach, sie förderte und sich als Frau positionierte.
Was ging in den 45 Minuten, die Missys Show dauerte, schief? Es war ein Spektakel und kein Konzert.
Das Intro: Tänzer in Neonanzügen fragen auf der finsteren Bühne: "Where the real Bitch is?" Ich glaube, ich bin im Willy-Wonka-Muscial, aber soweit alles noch in Ordnung. Missy kommt auf die Bühne und beginnt mit "She's a Bitch". Sie rappt und ich höre sie nicht, nur den Backup-MC und das Playback, das darunter läuft. Als sie beim Refrain ihre eigenen Zeilen schreiend doppelt, möchte ich sofort auf die Bühne stürmen und ihr heißen Honig und Halswohl-Pastillen anbieten. Missy klingt rauh und tief.
Lukas Hollenstein
Nächste Nummer - ebenfalls nur für die erste Strophe angespielt - ist "One Minute Man". Ich krieg Angst, dass es so weitergehen könnte, und konzentriere mich auf Missys mit Bling besetztes Mikrophon. Sie wirkt riesig auf der Bühne, doppelt so groß und breit wie ihre Tänzerinnen.
30 Sekunden "Get you freak on" und "All in my grill" folgen. Ich werde traurig. Warum macht die großartige Missy solche Shows? Hat sie keine Lust oder fehlt ihr die Kondition?
Dass sie den notwendigen Mut zur Perfomance nicht verloren hat, beweist sie, als sie bei "Work it" ins Publikum springt. Rappen tut nach wie vor die Band und die Backup-Posse. Das Publikum scheint es nicht sonderlich zu stören. Es kommt was aus den Boxen und die Show passt.
Nach 30 Minuten Spektakel zeigt sich, dass die Missy Mogelpackung nicht unraffiniert ist. Sie rappt tatsächlich die schnelle Nummer "Pass that Dutch" und ist GROßARTIG. Missy ist die Beste - ich bin wieder entflammt.
Lukas Hollenstein
Nachdem der Zauber vorbei ist, geht Missy von der Bühne und das neue Mündel aus Hawaii wird uns vorgestellt. Als sie zurückkommt - im dritten Jogginganzug aus ihrer eigenen Adidas-Kollektion - passiert musikalisch nichts mehr. 30 Sekunden "Lose Control", viel Airhorn-Gehupe, Turnschuhe in die Luft Heben, Crowd-Response-Spiele und Vorstellen der Tänzer. Wir halten unsere Telephone für Aaliyah, Biggie, Tupac und seltsamerweise nicht für Left Eye in die Höhe, die Tänzer werfen Glow Sticks ins Publikum und Missy Elliott ist auch schon wieder weg. Ihr DJ Freestyle spielt uns noch hochgepitchte Hits von Timbaland, Snoop Dog und Jay Z vor. Mein Photograph Lukas wird so richtig sauer, weil er es nicht ertragen kann, dass Jay Z trotz der Existenz von Time-Stretching uns mit Mickey-Mouse-Stimme vorgespielt wird und Snoop unter den Fittichen von Missys DJ zu Smurf Dogg mutiert. Verwirrt und traurig fallen mir die Äuglein zu.