Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Suicidal for Life"

Natalie Brunner

Appetite for distraction. Moderiert La Boum de Luxe und mehr.

9. 7. 2010 - 21:06

Suicidal for Life

Beim ersten Blick auf das Exit-Line Up hat mich ein Name überzeugt, mein Köfferchen zu packen: Suicidal Tendencies.

Im Moment glaube ich eher, ich mache einen Ausflug. Ein Weg durch einen Park führt hinauf zu einer Burgruine. Ältere Menschen verkaufen Marillen am Wegesrand. Ich bin unterwegs zu den Suicidal Tendencies und überlege mir Dinge wie: Hat das alte Mütterchen mit dem Kopftuch die Marillen wohl selbst gepflückt? Es ist eine seltsame Welt, um mit Agent Cooper zu sprechen.

Exit Festival 2010 auf fm4.ORF.at

  • Teil 1: In Novi Sad, wo das Exit Festival stattfindet, wohnen die nettesten Menschen der Welt.
  • Teil 2: Beim ersten Blick auf das Exit Line Up hat mich ein Name überzeugt, mein Köfferchen zu packen: Suicidal Tendencies.
  • Teil 3: LCD Soundsystem, DJ Shadow, die Antwoord, Placebo und Moderat
  • Teil 4: Von Mogelpackungen, Autopannen und gestohlenen Koffern. Die Opfer Missy Elliott, MS Dynamite und Röyksopp.

Näher zum Eingang gibt es schon festivalkompatiblere Waren wie blinkende Teufelshörner, die Old School Vodka Flaschen mit selbstgebranntem Destillat, auf die ich zuvor hingewiesen wurde, suche ich vergebens. Am Eingang die Routinekontrolle, ob mein Handband auch wohl festsitzt und dann die Überraschung. 50 Bullen mit Kötern und Klapptischen durchsuchen nicht nur die Rucksäcke der BesucherInnen, sondern auch den Innenraum von Gitarren. Es könnte ja jemand zu oft Desperado gesehen haben. Für meine Sicherheit ist also gesorgt.

Interviewpartner am Rande des physischen Desintegrationsprozesses

Bevor die Konzerte beginnen, geht die Interview-Sause los. Fünfzigtausend Besucher sind pro Tag am Exit und 500 Journalisten tummeln sich im Pressebereich. Da kann das Interview schnell zur Tortur werden. Generalstabsmäßig geplant werden die Bands jedem Interviewer für 5 Minuten vorgesetzt. Da kann es schon leicht geschehen, dass beide Parteien in einen zombieartigen Zustand verfallen.

Das traf auf jeden Fall auf die schwedische Band Miike Snow zu. Das Trio wird von britischen Kollegen als Mischung aus A-ha und dem Animal Collective beschrieben. Seit 4 Uhr in der Früh unterwegs und jetzt müssen sie am Fließband Fragen zu ihrem selbstbetitelten Debtalbum, Remixen, Takeshi Miike und den ganzen Kram beantworten. Ich versuche gegen ihre dunklen Sonnenbrillen zu klopfen und zu fragen: Hallo gibt es hier noch Leben? Aber dann war es doch ganz lustig, was Menschen in akuten Ermüdungszuständen zu Themen wie Überfischung der Weltmeere so von sich geben.

Miike Snow bei Natalie Brunner

lukas hollenstein

Ein paar Minuten später sitzt H.R. von den Bad Brains vor mir. Eigentlich würde ich gerne mit ihm weiterreden, wo das Gespräch mit Miike Snow geendet hat. Wäre sicher spannend, was er zu BP und Babylon zu sagen hat. Aber schon seine Grußworte werfen mich aus der Bahn. Ich bin ein durch und durch profanes Wesen und ein sehr schlechter Gesprächspartner, wenn Kategorien wie The Holy Spirit in die Konversation einfließen und das interessiert H.R. heutzutage mehr als Anekdoten aus der Zeit von SST Records.

Die Bad Brains sind die erste Band, die ich sehe. Es sind sehr alte, fast gebrechlich wirkende Herren. Es ist geisterhaft, wie die Wuchtigkeit der Band auf die zerbröckelnde Stimme von H.R. trifft. Der Kontrast, etwas, womit die Bad Brains auch bei ihrer Kombination von Hardcore und Reggea gespielt haben, ist mir zu hart. Das Konzert berührt mich, es ist intensiv. Es ist mehr Beklemmung als Befreiung.

Bad Brains

lukas hollenstein

  • exitfest.org: Mit LCD Soundsystem, The Horrors, Klaxons, Gonjasufi uvm!

Es ist neun Uhr. Ich habe eine leise Ahnung, dass das Exit Gelände riesig ist und um nichts in der Welt möchte ich die Suicidal Tendencies versäumen, die um Mitternacht auf der Explosive Stage spielen. Ich hatte keine Ahnung, wie groß das Gelände tatsächlich ist. Kann eine Festung so viele Burghöfe haben? Ich komme mir vor wie Alice im Wunderland. Auf der Suche nach der Sucidal Tendencies Stage komme ich an Burghöfen vorbei, wo riesige Fabeltiere mit integrierten Monitoren stehen. Eine Zugbrücke weiter auf der Latino Stage werde ich peinlich berührt Zeugin, da im globalisierten Serbien cubanischer Hip Hop in Kombination mit Ausdruckstanz sich großer Beliebtheit erfreut. Ich suche die Suicidal Tendencies Bühne und muss durch das Yoga Chill Out Zelt, in dem Menschen meditieren. Es ist eine seltsame Welt, um nochmals Agent Cooper zu zitieren.

Wunderland beim Exit Festival

lukas hollenstein

Als ich die Bühne endlich finde, durch Herumfuchteln mit meinem Pressepass hinter die Bühne komme und den Stagemanger finde, um ihn zu fragen, was mit meiner Interviewanfrage passiert ist, zuckt er mit den Schultern und deutet auf die massiven Gestalten, die gerade aus dem Burggraben klettern. Vielleicht besser kein Interview zu machen, eine weitere Teenage Illusion, die ich mir bis in die Pension retten kann. Zwei Fans mit blauen Bandanas stehen bereits jetzt zweieinhalb Stunden vor Konzertbeginn in der ersten Reihe.

Die nächste Fanvisite auf meinem Plan ist bei Chromeo

Die zwei Herren P-Thugg und Dave 1, deren spaßhafte Selbstbeschreibung als only successful Arab/Jewish partnership since the dawn of human culture gern und oft zitiert wird, veröffentlichen in zwei Monaten ein neues Album: "Business Casual". Den Titel haben sie von einem Anrufbeantworter eines Restaurants in Miami und Dave 1 Bruder A-Trak meinte, sie müssen das einfach als Titel nehmen. "Business Casual" ist eine Nacht mit Chromeo, wobei besonderer Akzent auf der Afterhour liegt. Solange Knowles singt, wie schön es nicht ist erwachsen zu werden, und dass man als Kind der 80er nicht von ihnen los kommt und der großartige Musikblog von Chromeo, das waren die Punkte unseres kleinen Schwätzchens.

Chromeo spielen live in einem Burghof der Dance Stage. Ein Ort, der eine Gladiatoren-Arena sein könnte. Sie werden mit einem superheldenwürdigen 70er-Intro angekündigt. Ihr quietschender Vocoder-Discofunk mit Gitarre und Keyboard und Synthesizern macht auch den Plastician, DJ Chef und MC Flowdan glücklich. Wie Touristen haben sie ihre Digicams um den Hals gehängt, die Cognac-Flasche lugt stilecht aus der mit THC bedruckten Hanfumhängetasche. Sie machen gut gelaunt Geräusche und Bewegungen wie Figuren aus einen Bugs Bunny Cartoon.

Chromeo beim Exit Festival

lukas hollenstein

A propos Bugs Bunny. Cyco Miko ist der Mensch gewordene Taz the Tasmanin Devil. Ganz besonders, wenn er sich während des zweistündigen Suicidal Tendencies Konzerts über die Bühne boxt, ständig Bewegungen macht, als würde er jemanden verprügeln oder in Venice Beach Gewichte heben.

Aber noch ist es nicht soweit. Um die Sucicdal Tendencies zu sehen, muss ich bei der Mainstage vorbei. Das offensiv gut gelaunte Doo Bap Ba Ba, das die Figur auf der Bühne von sich gibt, könnte den diabolischen Hirnen von Parker und Stone entsprungen sein. Mikas Gesangesstimme erinnert mich an Eric Cartman. Er trägt auch ein Clownkostüm. Ich werde wieder Albträume haben. Nur mehr zwei Burghöfe von Sucidal Tendencies entfernt.

Suicidal beim Exit Festival

lukas hollenstein

Suicidal beim Exit Festival

lukas hollenstein

Ich fantasiere, was sie mit Mika tun werden, wenn er sich in ihre Hood Venice Beach California verirren würde. Die Suicidal Tendencies sind nach wie vor ein unbändiges anarchisches Monster, der Prägung I dont take shit from no one. Cyco Miko, Reverend der Church of Suicidal hält Bühnenansprachen, die ich aufnehme, um sie demnächst euch und in ferner Zukunft möglichen Enkeln vorzuspielen.

Ungebrochener anarchischer Geist umweht die Suicidals, scheißegal wie alt sie sind. Man spürt Herz und Intergrität. Cyco Miko erzählt ausladende Schwänke, wie sein Bruder als Mitglied der Z Boys das Pool Skaten erfand und wie man im Barrio immer noch Moral und Ehrenkodex über den Gesetzeskodex stellt. Sie spielen so auf den Punkt, als wäre es 1983. Die Bühnenmonologe sind genau so wie die Nummern dringliche Brandreden für ein selbstbestimmtes Leben. Fight for your soul, your mind, your integrity and your dreams. Frau Brunner nach wie vor bekennendes Mitglied der Church of Suicidal.