Erstellt am: 19. 10. 2009 - 19:53 Uhr
Revolutionary Road Movie
Wenn es ein Wort gibt, das durch sogenannte Independent-Filme der letzten Jahre in den allgemeinen Wortschatz aufgenommen wurde, dann ist es dysfunktional. Vor allem die us-amerikanische Familie wurde genreübergreifend auf der Leinwand seziert und dekonstruiert, gesellschaftliche Strömungen, Probleme und Auffälligkeiten wurden in der kleinen Zelle "Familie" oder auch nur "Paar" durchdekliniert. Bis durch diese vielen Geschichten der Dysfunktionalität ebendiese auf der Leinwand Standard und somit normal wurde. (Mir wurde das so richtig bewusst, als ich einen Zeitungsartikel über Ritalin las und alles bereits wusste. Aus Filmen.) Vielleicht kommt der blanke Hass, der aus vielen us-amerikanischen Kritiken Sam Mendes aktuellem Film "Away We Go" entgegenweht daher, dass Burt und Verona wahrscheinlich die sympathischsten Menschen sind, die einem in diesem Jahr auf der Leinwand begegnet sind.
Tobis
Nach all den Abgründen, zwischenmenschlichen Vorhöllen und familiärem Scheitern wirken die werdenden Eltern, die sich auf das Kind freuen und die einander nicht den Alltag in ein "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" oder "Antichrist"-Szenario verwandeln, fast wie aus dem Märchen. In "Away we go" eine Hymne auf einen konservativen Lebensentwurf zu sehen, ist übellaunige Teufelandiewandmalerei und all die Kritiker, die Verona (Maya Rudolph) und Burt (John Krasinski) als smug und superior beschreiben haben, sollten sich vielleicht dem Mädchen namens Dorothy anschließen, vielleicht gibts in Oz auch für sie ein Herz. Ihr seht, ich bin erbost ob all der knatschigen Nörglerei.
Tobis
Nach seinem Regiedebüt "American Beauty" und dem Anfang des Jahres angelaufenen "Revolutionary Road" widmet sich der Brite (auch das wurde in manchen Reviews beleidigt aufgegriffen, dass ausgerechnet der Brite ein amerikanisches Road Movie macht und ein unauthentisches Bild der USA zeichnet) Sam Mendes wieder dem amerikanischen Mittelstand, der Paarbeziehung, Lebenskonstrukten und Lebenslügen. Burt und Verona sind Anfang Dreißig und erwarten ein Kind, was aber ausnahmsweise in einem Film weder zu Hysterie noch Krise noch zum Aufgeben sämtlicher Eigenschaften und Gewohnheiten führt, um sich fortan nur noch als "Eltern" zu definieren.
Tobis
Als Burts in der Nähe lebenden Eltern (kraftstrotzende Pensionisten, die sich mit dem Ruhestand nicht anfreunden können und ihre Berufung nicht darin sehen, Großeltern zu sein) beschließen nach Belgien zu ziehen, fällt der Großeltern-Bonus des bisherigen Wohnorts weg und Burt und Verona brechen zu einer Reise zu Freunden und Verwandten auf. Zu einer Suche nach einem neuen Zuhause und Familienentwürfen. Anhand der besuchten Familien und ihren Lebensmodellen entwirft Mendes unter anderem einen Alkoholiker-Alptraum, New Age Überheblichkeit und verzweifeltes Alleinerziehertum. Angesichts all der Katastrophen, Verletzungen und zwischenmenschlichem Versagen bei jeder ihrer Stationen kommen Burt und Verona irgendwann zu dem Schluss, dass sie weit davon entfernt sind fuck-ups zu sein. Sie sind - inmitten der meist satirisch überzeichneten Nebenfiguren - eine Insel der Seeligen in einem Meer aus Wahnsinnigen und Unglücklichen - und das eigene Glück wird ja schrecklicherweise oft erst angesichts des Unglücks anderer so richtig begriffen.
Tobis
Tobis
Entgegen aller Filmgenre-Regeln sind Burt und Verona ein Paar, das den Reigen Glücksseligkeit-Streit-Versöhnung im Regen nicht durchlaufen muss, deren Paar-Sein wird von der ersten Sekunde an erfolgreich übermittelt, an diesem Status, an diesem kleinen glücklichen Mikrokosmos wird nicht gerüttelt. Mendes geht es nicht um eine indie-angehauchte romcom-Blaupause, in der Mann und Frau nach Pseudo-Hürden vor dem Altar die Zweisamkeit für alle Ewigkeit beschwören, sondern um Momentaufnahmen von Lebensentwürfen, die allesamt ein Scheitern skizzieren, doch in Form von Burt und Verona bleibt in diesem Film ein Funken Hoffnung.
Oh! Sweet Nuthin
Auf der Klaviatur des Indie-Films klimpert "Away we go" eine melancholische Melodie, die Bilder sind weniger von der larger than life Öl-auf-Leinwand-Qualität wie in "Revolutionary Road", aber immer triumphiert die Bild- und Farbkomposition, immer noch braucht Mendes keine Close-Ups, um einen zu rühren oder Nähe zu den Figuren aufzubauen. Vielleicht schrammelt einmal zu oft soundtracktechnisch Alexi Murdoch auf der Gitarre einher zu einem herzbrechend schön eingefangenem Landschaftsbild, aber spätestens wenn Melanie Lynskey (aus einem meiner ewigen Lieblingsfilme "Heavenly Creatures", die in "Two and a half man" Charlie Sheen Stichworte für chauvinistische One-Liner zuwerfen muss) zu "Oh! Sweet Nuthin" den schönsten und tieftraurigsten Nicht-Striptease an einer Pole-Stange tanzt, ist diese Erbsenzählerei vergessen.
Von Piraten, Superhelden und Bestsellerautoren: Nina Hochrainer über Autor Dave Eggers
Wake Up
"Away We Go", basierend auf einem Buch von Dave Eggers (der auch das Drehbuch zu "Where the wild things are" geschrieben hat) und Vendela Vida, ist Zynismus-Kryptonit und die radikale Antithese zu "Revolutionary Road": Ohne auf die Kitsch-Pauke zu hauen und das Pathos-Horn zu blasen, orchestriert Sam Mendes eine Overtüre auf die Möglichkeit des Glücks. Oder wie meine Schwester L. und ich das nennen, seit wir vor ein paar Jahren das David Bowie / Arcade Fire Video ins Herz geschlossen haben, das auf YouTube ebendiesen Untertitel trägt: If you don't cry watching this, you're dead inside.