Erstellt am: 13. 10. 2009 - 16:31 Uhr
Chaos regiert
Heute in der Früh war es endlich so weit.
Vor zwei Wochen hatte ich etwas die Zeit übersehen und rannte dann in die Pressevorführung zum für mich heißest erwarteten Film des Jahres. Nur um dann schweißüberströmt festzustellen, dass ich mich wegen eines verpassten Newsletters im falschen Kino befand.
Damals hätte mein Zustand wahrscheinlich besser zu Lars von Triers neuem Werk gepasst. Nicht nur wegen meiner Abgekämpftheit, sondern wegen eines E-Mails, das mich zuvor schwer verstört hatte. Einer meiner besten Freunde berichtete darin vom Zusammenbruch seiner langjährigen Beziehung, in sehr beunruhigenden, traurigen Worten.
Inzwischen hat er sich glücklicherweise etwas gefangen und redet von einem neuen Beginn. Und ich wagte am heutigen Vormittag, an dem die Sonne hervorblinzelte, einen zweiten Anlauf in Sachen "Antichrist". Gar nicht gehetzt, sondern einfach nur erwartungsvoll.
Polyfilm
Ich weiß, dass ich in einem ähnlich gefassten Zustand seinerzeit in "Breaking The Waves" gegangen bin, auch so eine frühe Pressevorstellung. Und ich erinnere mich an das fast wie betrunkene Herauswanken aus dem Saal, das Schluchzen und die Taschentücher um mich herum und auch in meiner Hand, an meine roten Augen und an das schmerzende Tageslicht.
Ich werde nicht vergessen wie mich dieser Film devastierte, wie er den ganzen Tag dunkel einfärbte. Und wie er mir trotzdem oder gerade deswegen das Leben ins Bewusstsein rief, das wirkliche, schmerzhafte, leidenschaftliche und außerordentliche Leben, abseits des Wachkomas, in dem wir alle durch den Alltag treiben. Ich habe "Breaking The Waves" danach sofort in meiner privaten Lieblingsfilmliste weit nach oben gereiht - und bewusst nie wieder angesehen.
Mir fallen auch die Tränen ein, die nach dem Abspann von "Dancer In The Dark" kollektiv im Kinosaal vergossen wurden, dieses schöne gemeinsame Heulritual, dieses melodramatische Fest, gegen das Radiohead-Konzerte wie Kasperltheater wirken.
Und ich denke an mein genüssliches, fieses Grinsen am Ende von "Dogville" und "Manderlay" zurück, beides politische Filme, die den Großteil des so genannten politisch engagierten Kinos wie armselige Seminararbeiten wirken lassen.
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Jetzt also "Antichrist". Als der mit Kreide gekritzelte Vorspann auf der Leinwand auftaucht, fällt mir meine Vorfreude ein, als ich zum ersten Mal hörte, dass ausgerechnet Lars von Trier, der große Manipulator, der Poet der puren Unschuld und der reinen Niedertracht, der intellektuelle Anti-Intellektuelle par excellence, einen Horrorfilm drehen würde.
Denn nichts kann der dänische Meisterregisseur so gut wie etablierte Genres - vom Thriller über den Liebesfilm oder das Musical - formal und inhaltlich an einen Endpunkt zu treiben oder auch auf einen gewisse Weise zu vergiften.
Doch dann folgten die erste Berichte aus Cannes. Hasstiraden, Enttäuschung, breite Ablehnung. Wie kann an der Idee, Charlotte Gainsbourg und Willem Dafoe in den deutschen Wald zu schicken und dort mit dem Grauen zu konfrontieren, nur irgendetwas falsch sein, fragte ich mich. Zwei anbetungswürdige Ausnahmetypen, der idealste Schauplatz, dazu noch der Beelzebub und Herr von Trier als Fädenzieher, eine bessere Konstellation gibt es doch nicht.
Aber die Medien geiferten, von Frauenfeindlichkeit, genüsslich inszenierter Gewalt, Dummheit. Erst in den letzten Wochen ist die Stimmung umgeschwenkt, ausgerechnet viele amerikanische Kritiker, sogar der alte und konventionell gestimmte Roger Ebert, feierten den Film. Worauf im Verlauf sogar Teile der deutschsprachigen Presse ihr vernichtendes Cannes-Urteil hinterfragten.
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Um es endlich vorwegzunehmen: Ich bin heute nicht bis auf die Grundfesten erschüttert aus der Vorführung gekommen. "Antichrist" hat mich weder zermalmt noch meinen Gefühlshaushalt komplett durcheinandergewirbelt. Schade eigentlich.
Auch dieses gemeine, glucksende Lachen, das mich angesichts des finalen Racheakts in "Dogville" erfasste, blieb aus. Stattdessen spazierte ich in einer seltsam indifferenten Laune nach Hause und versuchte erstmal meine Gedanken zu ordnen.
Bin ich nun so abgebrüht, dass mich all die Quälereien und Verletzungen, die Lars von Trier explizit vorführt, kalt ließen? Möglicherweise. Aber es ist vor allem die immense Schönheit vieler Einstellungen, die dem ultimativen Schrecken entgegensteuern. In atemberaubenden Bildern bringt der Regisseur jene (schwarz-)romantische Faszination für den Wald und seine Bewohner auf den Punkt, die auch durch die Popkultur dieser Dekade geistert.
Märchenhafte Geweihe, Tannen, Rehlein und Hirsche, all das ist ja auf Bandfotos, Albumcovern, Möbeln und Tapeten schon lange omnipräsent, ich selber gehöre zu den Süchtigen, liebe meine Halskette mit dem versilberten Zweig, bin entzückt von Häschen und Füchsen, erspare mir dazu jetzt jede soziologische Erklärung. Wem es ähnlich geht, der wird sich an diesem Film, der wie ein überlanges Fever Ray-Video aussieht, visuell delektieren.
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Es ist aber eben auch diese Überästhetisierung, die an Lars von Triers stilisiertes Frühwerk ("The Element Of Crime", "Europa") erinnert, die dem Inhalt von "Antichrist" etwas im Weg steht. Und dann steht sich der Inhalt noch selbst öfter im Weg. Fast schon streberhaft lässt der Regisseur bisweilen Horrorzitate aufflackern, um die Genrekollegenschaft zu übertrumpfen.
Dabei liegt unter all diesen Schichten, dem traumhaften Wald- und Wiesenzauber, den hypnotisierenden Zeitlupen, dem Geflüster über Hexen und, ja, den Satan, etwas viel Spannenderes vergraben.
Eine fatale Beziehungsgeschichte im von Trier'schen Sinn nämlich. Eine schockierende Studie weiblicher Depression und männlicher Paranoia. Die Hölle, das sind Mann und Frau.
"Ich bin ziemlich offen bei der Gleichberechtigung der Geschlechter", sagt der Regisseur im Presseheft zum Vorwurf der Misogynie. "Ich glaube nur nicht, dass sie jemals wirklich passieren wird. Die Geschlechter sind sehr verschieden - oder es würde keinen Spaß machen."
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No risk, no fun. Angesichts der zelebrierten Verstümmelungen dieses Films wäre so ein Fazit wohl mehr als zynisch. Aber Lars von Trier ist auch für seinen Sarkasmus bekannt.
Es ist jedenfalls schade, dass "Antichrist" seine eigentlich zwingenden Themen - die absolute Absage an das Zusammensein, das grundlegende Böse im Menschen und der Natur, die Nähe von Sex und Tod - gegen Ende immer mehr dem simplen Grusel opfert. Denn dadurch kommt er, trotz geballter Katastrophen, nicht an die Überwältigungskraft anderer von Trier-Werke heran.
Vielleicht hat das auch mit dem Gesundheitszustand des Regisseurs zu tun, der selber, von einer schweren Depression erfasst, diesen Film nur auf Autopilot drehte. Von einer bloßen surrealen Bildersammlung spricht er im Interview, von verfilmten Träumen, unreifen Fantasien aus seiner Jugend.
"Antichrist" also: Eine milde Enttäuschung oder zumindest kein emotionaler Aufruhr. Aber auch kein blöder Skandalstreifen, sondern ziemlich grandioses Scheitern. Selbst wenn sich Lars von Trier einmal irrt oder danebentritt, dann liegt er immer noch richtig.
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"Antichrist" startet ab 5. November in den österreichischen Kinos und wird bei der Viennale gezeigt.