Erstellt am: 19. 10. 2016 - 14:51 Uhr
Demokratie braucht geschützte Räume
Elevate Festival
Das Festival für elektronische Musik und politischen Diskurs findet von 20. bis 23. Oktober in Graz statt.
Das gesamte Diskursprogramm ist bei freiem Eintritt im Forum Stadtpark zu besuchen.
Sie wird als Netzaktivistin und Campaignerin bezeichnet, war in der deutschen Piratenpartei aktiv, aus der sie vor Kurzem ausgetreten ist, und hat die Wahlprogramme der "Alternative für Deutschland" (AfD) analysiert: Katharina Nocun ist einer der Gäste beim kommenden Elevate Festival in Graz. Und es lohnt sich, sich mit ihrer Haltung zu Datenschutz, rechten Bewegungen, Integrationspolitik und Medien auseinander zu setzen.
Beim Elevate geht es in den kommenden Tagen um das Thema "We Are Europe". Das musikalische Line-up ist diesmal Teil des europaweiten Festivalnetzwerks We Are Europe und im Diskursprogramm widmet sich das Elevate gegenwärtigen Veränderungsprozessen in Europa. Mit solchen Veränderungsprozessen hat die Ökonomin Katharina Nocun täglich zu tun. Doch wie beschreibt sie ihre Arbeit jemandem, der sie noch nicht kennt? Das Internet erlaube uns, mit einfachen Möglichkeiten Netzwerke mit Gleichgesinnten zu schaffen und gemeinsam politisch etwas zu bewegen. Und das mache sie beruflich und in ihrer Freizeit, sagt Katharina Nocun im Interview.
Maria Motter: Das Elevate Festival kündigt dich u.a. mit diesem Satz an: "Sie klagt gegen mehrere deutsche Überwachungsgesetze vor dem Bundesverfassungsgericht." Während du am Freitag in Graz sein wirst, wird der deutsche Bundestag das neue Bundesnachrichtendienst-Gesetz (kurz: BND-Gesetz) verabschieden. Damit wird der deutsche Bundesnachrichtendienst mit neuen Möglichkeiten der Überwachung ausgestattet.
Katharina Nocun: Es ist so, dass ich später als geplant zum Elevate kommen werde. Die deutsche Bundesregierung hat kurzfristig angekündigt, dass das BND-Gesetz am Freitag verabschiedet werden soll. Daraufhin haben wir ein größeres Bündnis mit zahlreichen Journalistenverbänden, Bürgerrechtsorganisationen, Anwaltsverbänden und Datenschützern geschmiedet. Wir werden Donnerstagabend vor dem Brandenburger Tor eine Mahnwache veranstalten. Ich denke, dass es wichtig ist, sich im Vorfeld von Grundrechtseinschränkungen intensiv einzubringen. Für mich geht es hier um nichts weniger als um die Zukunft unserer Demokratie.
Miriam Juschkat
Ich bin mit Computern, mit Netzwerken aufgewachsen. Meine Eltern sind beide Programmierer. Ich weiß, was man mit Daten alles machen kann. Mir macht es große Sorgen, dass wir in einer freien Demokratie plötzlich Instrumente installieren und anwenden, die wir sonst in Überwachungsregimes exportiert haben. Deshalb habe ich zu Studienzeiten angefangen, mich zu engagieren: damals gegen die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland. Wir haben eine gemeine Bundesverfassungsbeschwerde organisiert, mit fast 35.000 UnterstützerInnen. Das war für mich der Einstieg in die Politik.
Es gibt so viele Themen, bei denen man sich denkt, man müsste etwas machen und die Welt sei ungerecht. Oft fehlt einem der Zugang oder man geht davon aus, jemand anderer kümmert sich schon darum. Bei diesem Thema habe ich gemerkt: Ganz wenige Menschen verstehen, was es eigentlich bedeutet, wenn die Kommunikationsdaten von allen Menschen in einem Land erfasst und gespeichert werden und was man mit diesen Daten machen kann. Da habe ich erkannt: Entweder, du hängst dich da rein oder das wird sang- und klanglos verabschiedet. Danach habe ich mich immer wieder eingebracht, wenn es um neue Überwachungsgesetze geht. U.a. habe ich mit Patrick Breyer eine Verfassungsbeschwerde gegen die Bestandsdatenauskunft eingebracht. Das haben wir als Verfassungsbeschwerde organisiert und mehr als 6.000 Leute haben sich angeschlossen. Das liegt jetzt dem Bundesverfassungsgericht vor und wir warten nach wie vor auf eine Entscheidung.
Ich denke, dass es wichtig ist, im Zweifel zu klagen, wenn man der Meinung ist, dass ein Gesetz grundrechtswidrig ist.
Was mich aber schockiert, ist das Ausmaß an Gesetzen, die in den letzten Jahren verabschiedet wurden, die vom Bundesverfassungsgericht zurechtgestutzt wurden. Vor allem, wenn ich mir überlege, wie das in den 60er und 70er Jahren ausgesehen hat: Da war es eine Schande für einen Justiz- oder Innenminister, ein Gesetz zu verabschieden, das vom Verfassungsgericht einkassiert wird. Heute habe ich den Eindruck, dass oft ein Gesetz verabschiedet wird, von dem der Gesetzgeber weiß, dass es viel zu weit geht und man verlässt sich darauf, dass es zurecht gestutzt wird. Und man hat keine Scham, nach dem Urteil das Maximale herauszuholen.
Das neue BND-Gesetz ermöglicht u.a. die massenhafte Überwachung elektronischer Kommunikation im Ausland, kritisiert etwa Amnesty International: "Vage Kriterien erlauben dem Geheimdienst nahezu ungehinderten Zugriff auf die Telekommunikation. Die Datenerhebung im Ausland bleibt sogar gänzlich unreguliert: Ein gravierender Eingriff in Menschenrechte findet damit ohne gesetzliche Grundlage statt. Eine unabhängige, effektive Kontrolle ist nicht vorgesehen." Was stört dich an dieser Überwachung? Man könnte ja auch das Argument Sicherheit ins Treffen führen.
Naja, wenn wir uns an die Geschichte zurück erinnern, waren es immer totalitäre Regime, die Bürgern das Recht genommen haben, ihr Recht auf Privatsphäre wahrzunehmen, unter dem Deckmantel, dass man "etwas zu verbergen" hätte. Ich bin überzeugt davon, dass eine Demokratie geschützte Räume braucht, in denen wir unsere Privatsphäre haben, um verliebt zu sein, um unserer Arbeit nachzugehen, um mit unserem Anwalt und unserem Arzt zu reden. Ohne diesen geschützten Raum kann auch kein kritischer Journalismus stattfinden. Und in dem Moment, in dem wir flächendeckende Massenüberwachungssysteme installieren, von denen jeder erst einmal ausgehen muss, betroffen zu sein, setzen schleichende Veränderungen in der Gesellschaft ein. Die Meinungsfreiheit wird eingeschränkt. Die Pressefreiheit wird eingeschränkt, wenn Journalistinnen und Journalisten nicht mehr wissen, ob sie noch frei arbeiten können oder ihre Kommunikation zu ihren Quellen überwacht wird. Und ich als Bürger bin vielleicht auch zurückhaltender, mich online zu äußern, zum Beispiel gegen den Geheimdienst, weil ich Angst habe, in einen Filter zu geraten. Das ist eine ganz gefährliche Tendenz, die der Demokratie nach und nach die Luft zum Atmen nimmt.
Was mich am meisten ärgert an der Debatte rund um Überwachung ist, dass immer behauptet wird, man bräuchte diese Massenüberwachung, um Sicherheit zu gewährleisten. Dabei haben doch gerade die Anschläge in Belgien und Frankreich gezeigt, dass die Attentäter meist bereits im Fadenkreuz der Ermittler waren. Ihre Namen waren bekannt. Man hätte zielgerichtet diese Netzwerke ins Visier nehmen können. Stattdessen hat man Milliarden Euro europaweit in Programme zur Massenüberwachung gepumpt, von denen im Zweifel meine Schwiegermutter genauso betroffen ist wie ich und wir sind bestimmt keine Terroristen. Diese Filter dieser Überwachungssysteme werden nicht ausreichend kontrolliert. Das spielt sich alles im Geheimen ab und die parlamentarische Kontrolle wurde in den Jahren nach Snowden noch weiter zurückgeschraubt. Und das ist genau der Fehler: Wir müssten in Europa stärker von Snowden lernen statt von der NSA. In dem Moment, wo wir anfangen, die freiheitlichen Werte abzuschaffen, die wir doch angeblich verteidigen - da ist der größte Anschlag auf die Demokratie wirklich geglückt.
Jetzt könnte man argumentieren: Ja, aber wir wissen ja nicht, wieviele Anschläge vereitelt wurden durch diese Überwachung.
Als rational denkender Mensch gehe ich davon aus, dass der Geheimdienst sehr interessiert daran wäre, jeden Fall, den er durch Massenüberwachung aufklären kann, möglichst groß in die Presse zu bringen. Nach dem NSA-Skandal sind Geheimdienst-Vertreter in Deutschland an die Presse getreten und haben behauptet, dutzende Anschläge mit Hilfe von Massenüberwachung verhindert zu haben. Nach Nachfragen ist nichts von diesen Behauptungen übrig geblieben. Im Endeffekt ist es die zielgerichtete Ermittlung, die uns wirklich weiterhilft. Da müsste das Geld und die Anstrengung hingeleitet werden und nicht in die Massenüberwachung, bei der wir alle ins Netz geraten. Man findet die Nadel im Heuhaufen nicht mehr, wenn man so viele Daten gesammelt hat.
https://weact.campact.de/petitions/bnd-gesetz-verhindern
Du hast eine Petition gegen das neue BND-Gesetz auf eine Online-Plattform gestellt. Über 6.000 Menschen haben digital unterschrieben. Das sind jetzt nicht gerade beeindruckend viele. Du forderst: "Illegale Spähexzesse dürfen nicht einfach nachträglich legalisiert werden" und "Wir wollen keine deutsche NSA." Wie sieht deine Kampagnenarbeit abseits solcher Onlinepetitionen aus?
Ganz wichtig ist es, Bündnisse zu schmieden. Ich bin sehr froh, dass wir im Fall des BND-Gesetzes ein sehr breites Bündnis von Bürgerrechtsorganisationen unter einer Flagge versammelt haben: Wir wollen weniger Überwachung, wir wollen den freien Raum in der Demokratie bewahren. Deswegen werden wir am Donnerstag 20.000 Unterschriften gegen das neue BND-Gesetz übergeben. Das sind alle unsere Petitionen zusammengenommen. Dieses Schmieden von Bündnissen ist auch Teil von Kampagnenarbeit. Der politische Gegner hat natürlich viel mehr Geld zur Verfügung. Man kann sich ja vorstellen, dass hinter diesen ganzen Überwachungssystemen Milliarden stecken. Wir können uns nicht leisten, eine Lobbyarmee in Brüssel zu beschäftigen, wie das beispielsweise Überwachungskonzerne und auch zum Teil Vertreter der Geheimdienste machen. Wir sind viel mehr auf ehrenamtliche Arbeit angewiesen.
20.000 Unterschriften sind für Deutschland auch nicht gerade viel. Denkst du, das hängt damit zusammen, dass die wenigsten Leute mit der Technik vertraut sind oder dass es der Mehrheit egal ist?
Meine Wahrnehmung ist eine ganz andere. Meine Wahrnehmung ist, dass es vielen Menschen wichtig ist, dass sich etwas ändert. Das merkt man auch an dem Zuspruch zum Kinofilm über Edward Snowden. Viele Menschen hat es sehr bewegt, dass Snowden an die Öffentlichkeit gegangen ist und dieses unglaubliche Überwachungsausmaß der NSA enthüllt hat, obwohl er damit ja sein Leben riskiert hat und nach wie vor riskiert. Die meisten Menschen wissen aber nicht, wie sie etwas ändern können und wo man am besten ansetzt. Es ist die Aufgabe von Bürgerrechtsorganisationen und Aktivisten, da einen Ansatz aufzuzeigen.
Beim konkreten BND-Gesetz ist es leider so, dass zeitgleich noch der NSA-Untersuchungsausschuss noch läuft. Dieses Gesetz wird also bereits verabschiedet, bevor der NSA-Untersuchungsausschuss sein Fazit öffentlich verkünden kann und sagt, was die richtigen Lehren aus diesem Skandal wären. Das ist politisch geschickt gespielt seitens des Innenministeriums und der Geheimdienste. Und zeitlich war es auch schwierig: Die erste Lesung des BND-Gesetzes fiel in die Fußball-WM, wo es wenig Berichterstattung gab. Es ist oft auch Teil politischer Strategien, Gesetze in eine Zeit zu legen, wo man weiß, dass nicht sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit da sein wird.
Apropos Aufmerksamkeit. Die bekommt die AfD mehr und mehr. Eine aktuelle Umfrage sieht die sogenannte "Alternative für Deutschland" als drittstärkste Partei auf Bundesebene. In Mecklenburg-Vorpommern kam die AfD bei der Landtagswahl Anfang September auf 20,8 Prozent der Stimmen, bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin kam die Partei auf 14,2 Prozent. Du hast die Wahlprogramme der Landesverbände der umstrittenen Partei genau gelesen und eine Studie gemacht. Du bezeichnest die AfD-Politik als "neoliberale Politik in blauer Verpackung". Die Studie gibt es auch zum Nachlesen. Was hat dich am meisten überrascht?
Dass sich die AfD kaum Mühe gegeben hat, ihre neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik in irgendeiner Weise in den Wahlprogrammen zu kaschieren. Jeder, der interessiert daran ist, herauszufinden, was die AfD eigentlich will, braucht sich nur einmal deren Anträge in den Landtägen anzuschauen. Beispielsweise hat sich die AfD in Hamburg mehrfach positiv zu Freihandelsabkommen wie CETA und TTIP geäußert. Es gibt Anträge gegen Mietpreisbremsen. Es gibt Äußerungen von AfD-Abgeordneten, der Hartz IV-Satz sei viel zu hoch. Die AfD macht aus wirtschaftspolitischer Sicht überhaupt keine Politik für die sogenannten "kleinen Leute", sondern es ist eher eine Elitenpolitik. Eine Abschaffung der Erbschaftssteuer zu fordern, obwohl Milliarden in der Bildung und in der Sozialpolitik fehlen - das ist eine Klientelpolitik für die oberen zehn Prozent. Ich habe es als meine Aufgabe gesehen, das öffentlich zu machen und den Leuten zu sagen: Moment, ihr wählt hier klar gegen eure eigenen ökonomischen Interessen. Die AfD ist nicht nur eine fremdenfeindliche Partei, sondern das ist eine Partei, die es sich auf die Fahnen geschrieben hat, den Sozialstaat massiv auszuhöhlen.
AFD
"Die Welt" hat vorgestern getitelt, die AfD wäre die wahre Internetpartei. Man könnte auch sagen, nach allem, was du analysiert hast: Aus Sicht der Partei ist das eine extrem gute Kampagnenarbeit, wenn man Wählerinnen und Wähler für ein Programm mobilisiert, das eigentlich gegen die Interessen dieser Wähler arbeitet.
Ich denke, dass eine Partei, die ihre Wähler systematisch täuscht, höchstens kurzfristig damit gut fährt. Langfristig ist es aber so, dass die Wählerinnen und Wähler früher oder später erkennen werden, dass sie getäuscht wurden. Und an dieser Stelle wird die Unterstützung bröckeln. Ein Problem, das wir bei der AfD haben, ist, dass die AfD sehr stark mit Zuspitzungen spielt. Wir haben immer wieder Fälle, in denen Spitzenpersonal mit sehr aggressiven Forderungen nach vorne tritt. Dann wird wieder dementiert und gleichzeitig äußert sich noch ein Parteikollege, dass es gar nicht so gemeint wäre. Und in der Zwischenzeit ist man auf allen Titelblättern der Nation gelandet und hat öffentliche Aufmerksamkeit generiert. An dieser Stelle ist es wichtig, Medienkritik zu üben und zu reflektieren, inwieweit sich Medien instrumentalisieren lassen. Und sich zu fragen, ob es nicht auch Teil einer politischen Strategie ist, immer wieder politische Spitzen zu veröffentlichen - genau wissend, dass dann alle darüber berichten. Da müssen wir selbst reflektieren: Sind das die wirklich wichtigen Debatten, die wir gerade führen müssen, wie sich einzelne AfD-Politiker gerade geäußert haben? Oder gibt es nicht wichtigere Probleme.
Aber wie sollte man mit Aussagen beispielsweise von Frauke Petry umgehen? Große Empörung hatte etwa deren Äußerung hervorgerufen, notfalls müssten Polizisten an der Grenze auf Flüchtlinge schießen. Wie sollte man mit solchen Äußerungen umgehen? Überhaupt nicht darüber berichten?
Man wird darüber berichten. Aber in dem Moment, wo es offensichtlich ist, dass eine Partei systematisch eine Strategie benutzt, um Medienaufmerksamkeit zu bekommen, bin ich als Leser auch übersättigt und denke: Okay, das ist Kampagne und keine Politik. Da würde ich mir wünschen, mehr in die Tiefe, also in die Recherche zu gehen. Ich habe alle Wahlprogramme der AfD gelesen und analysiert und daraus eine Studie erstellt, inwiefern die AfD eine soziale Partei ist. Abseits polemischer Spitzen hinter die Fassade zu gucken, ist auch die Aufgabe von Medien. Wie tickt die Partei abseits einiger Köpfe, die prominent nach vorne gestellt werden? Wie stimmen Landtagsabgeordnete ab, welche Anträge bringen sie ein?
Beispielsweise im Berliner Wahlkampf fand ich es als Migrantin sehr schockierend, dass die AfD sich als die Partei präsentieren wollte, die die richtige Lösung auf Migration gefunden hätte. Da standen im Wahlprogramm Vorschläge wie, dass Bürgerkriegsflüchtlinge nur solche Hilfen bekommen sollen, die ihnen auch in ihrem Herkunftsland helfen. Deutsch zu lernen wird dann wohl nicht zu diesen Fertigkeiten gehören. Wenn man daran denkt, dass man sich bei den Gastarbeitern in Deutschland in den letzten Jahrezehnten eingeredet hatte, die bräuchte man nicht integrieren, die gehen ja irgendwann wieder, dann sollte man daraus für die Integrationspolitik Lehren gezogen haben. Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Leute bleiben, und wir müssen einen Weg finden, wie wir miteinander umgehen und zu einer Gemeinschaft zusammen wachsen. Zum Beispiel ist die AfD für ein Betreuungsgeld. Ich bin nach Deutschland gekommen und habe Deutsch erst im Kindergarten gelernt. Wenn man jetzt einen ökonomischen Anreiz für Eltern setzt, die nicht soviel Geld haben, ihre Kinder zuhause zu lassen anstatt sie in den Kindergarten zu schicken, wird es viele Kinder geben, die aufgrund solcher Politik erst sehr spät die neue Sprache lernen werden. Und das bringt massive Probleme mit sich. Ich weiß aus meiner eigenen Geschichte, dass es extrem wichtig ist, dass man Menschen, die nach Deutschland kommen, möglichst gut in der Gesellschaft integriert und nicht ghettoisiert. Ich war wirklich schockiert, nachdem ich das Wahlprogramm der AfD Berlin gelesen habe. Das ist eine Partei, die darauf hinarbeitet, Parallelgesellschaften in Deutschland herbeizuführen.
Du bist gebürtige Polin. Was hat deine Eltern nach Deutschland geführt?
Meine Eltern sind 1989 vor der Wende nach Deutschland gekommen. Zum einen war die wirtschaftliche Lage in Polen schwierig, zum anderen die politische. Meinungsfreiheit gab es nicht. Wenn man nicht in der Partei war, konnte man auch nicht den Beruf ausüben, den man gern ausüben möchte. Es gab vor der Wende massive Unruhen in Polen, da gab es teilweise Kriegszustände, die verhängt wurden, weil es so massive Proteste gab. Das war für meine Eltern nicht mehr auszuhalten mit zwei Kindern. Als es die Chance gab, sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen, haben sich meine Eltern entschieden, die zu nutzen. In den letzten Monaten habe ich aus Interesse alte Zeitungsberichte durchgeblättert. In der Zeit, als meine Eltern nach Deutschland gekommen sind, sind über eine Million Menschen aus den ehemaligen Ostblock-Staaten nach Deutschland eingewandert und die Schlagzeilen waren erschreckend ähnlich wie die Schlagzeilen heute. Es war die Rede von "Asylchaos" und "Die Flut aus dem Osten kommt". Es gab Bilder von katastrophalen Unterkünften. Befürchtungen, dass man sich das integrationspolitisch nicht leisten könne und es fatal für die Gesellschaft sein würde. Davon redet heute niemand mehr. All die Menschen, die damals gekommen sind - die meisten davon sind heute vorbildlich integriert. Da kräht heute kein Hahn mehr danach. Deswegen bin ich zuversichtlich, dass wir die momentane Situation eher damit lösen können, dass wir sagen, wir lernen aus dem, was damals passiert ist, statt auf die rückwärtsgewandte Politik der AfD zu hören, die uns einreden möchte, dass wir Parallelgesellschaften bräuchten. Nein, die brauchen wir nicht. Vom Weggucken bei der Integration kann man keine Gesellschaft aufbauen. Man muss sich aktiv einbringen.
2011 sagte die deutsche Autorin Juli Zeh in einem Interview über die Piratenpartei: "Die Piraten sind keine Internet-, sondern eine Freiheitspartei." Du warst während des letzten Bundestagswahlkampfs die politische Geschäftsführerin im Bundesvorstand der Piraten. Anfang Oktober hast du die Partei verlassen und auf Twitter mit den Worten kommentiert: "Lasst uns Freunde bleiben". Kannst du dich heute noch mit Idealen der Piraten identifizieren?
Ich denke, dass die Piraten sehr viel in der deutschen Politik verändert haben. Zum einen haben sie eine ganz wichtige Debatte zur Bürgerbeteiligung angestoßen. Aufgrund der Präsenz der Piraten sind auch die großen Volksparteien in sich gegangen und haben überlegt, wie könnten wir unsere Mitglieder und Bürger vor Ort besser einbringen. Und wie können wir neue Tools durch das Internet für Bürgerbeteiligung nützen. Ein anderer Punkt ist die Transparenz: Eine Kernforderung der Priaten war und ist, dass wir in der Politik dahin gehen müssen, weniger hinter verschlossenen Türen zu verhandeln und stattdessen eher den Dialog mit Bürgern suchen. Das ist ja hochaktuell, wenn wir uns heute die Diskussion um TTIP und CETA angucken. Das ist genau das Problem dieser Abkommen: Dass hinter verschlossenen Türen verhandelt und massiv Lobbying ausgeübt wurde und dass es für die Bürger nicht nachvollziehbar ist, warum ein fertiger Vertrag abgesegnet werden sollte, bei dem sie nie ein Mitspracherecht während der Verhandlung hatten. Und ich habe in den letzten Jahren viele Informationsfreiheitsanfragen an die EU-Kommission gestellt und habe zuhause Hunderte von Lobbyprotokollen von diversen Sitzungen herumliegen. Ich finde es erschreckend, dass die EU-Kommission solche Dokumente nicht von sich aus offenlegt und ich glaube nach wie vor, dass wir da einen Politikwandel brauchen. Und ein weiterer Punkt, der durch die Piraten stärker Gehör gefunden hat, waren Bürgerrechte und Datenschutz.
Wir müssen aktiv schauen: Was treiben unsere Geheimdienste eigentlich da? Was bedeutet das eigentlich, wenn immer mehr Teile unseres Alltags digital vernetzt sind? Wir wissen, dass das Internet ein Raum der privaten Lebensgestaltung ist. Bei jedem von uns laufen große Teile der privaten Kommunikation über digitale Kanäle. Über Facebook, Whatsapp, über SMS oder andere Tools - das sind alles elektronische Daten und ich fühle mich nicht wohl, wenn ich weiß, dass jemand mitliest, was ich mit meinem Freund über Kurznachrichten zu bereden habe. Und ich denke auch nicht, dass es den Staat etwas angeht. Das sind Punkte, die mir nach wie vor wichtig sind. Deshalb hab’ ich auch geschrieben: Lasst uns Freunde bleiben.
All diese Datenmengen laufen natürlich auch zu den großen Konzernen, also etwa zu Google und Facebook.
Es gibt einerseits das Problem, dass Geheimdienste massiv Daten abgreifen. Das andere Problem ist, dass Daten das neue Gold der Internetwirtschaft sind. Viele Geschäftsmodelle, die in den letzten Jahren entstanden sind, finanzieren sich fast ausschließlich über Targeted Advertisement - also gezielte Werbung anhand von Datenanalysen. Wir müssen uns klar sein, dass dieses Modell langfristig toxisch ist für eine Gesellschaft. Insbesondere in dem Moment, wo sich Geheimdienste an diese, aus anderem Grund anlegten Datensammlung dranwanzen können und diese Daten abgreifen. Da müssen wir eine große gesellschaftliche Debatte führen, inwieweit nicht solche Geschäftsmodelle und solche Monopole wie Google oder Facebook nicht auch schädlich für die Demokratie sind. Ich glaube, dass wir auf europäischer Ebene viel stärker diskutieren müssen, was denn ein modernes Kartellrecht, was ein modernes Wettbewerbsrecht in Zeiten des Internets eigentlich bedeutet. Wir sehen in vielen Bereichen, dass es nur noch einen Anbieter gibt, der mehr oder weniger konkurrenzlos ist. Ich habe für die Verbraucherzentrale in Deutschland gearbeitet und es ist naiv, davon auszugehen, dass man wirklich eine Wahl hat, wenn man mit seinen Freunden online kommunizieren will. Man liest sich die Geschäftsbedingungen von Facebook durch und die sind länger als die amerikanische Verfassung. Man findet die Geschäftsbedingungen schlecht und als Jugendlicher ist man dann trotzdem ausgegrenzt, wenn man nicht auf diesen Plattformen ist. Da müssen wir als Gesellschaft auf den Gesetzgeber hinwirken, dass wir eine Struktur bekommen, mit der freie Entscheidungen für oder gegen Plattformen möglich sind. Momentan können wir das nicht wahrlich frei entscheiden.
Elevate Festival
Warum bist du aus der Piratenpartei ausgetreten. Fünf Jahre später könnte man sagen, dass nicht viel von den Piraten geblieben ist außer Geschichten von leicht bis schwer verhaltensauffälligen Personen.
Ich habe meine Arbeit in den Bereich von Bürgerrechtsorganisationen verlagert. Ich habe gemerkt, dass ich da viel bewegen kann und auch viel bewegen will. Von daher hatte ich in den letzten Jahren nicht mehr so viel für oder mit der Piratenpartei gemacht. Es war ein konsequenter Schritt zu sagen, wieviel bedeutet mir diese Parteimitgliedschaft noch? In meiner alltäglichen Arbeit spielte sie kaum eine Rolle. Daher bin ich ausgetreten.
Woran arbeitest du jetzt?
Ja, momentan leite ich eine Volksinitiative gegen CETA in Schleswig-Holstein und hoffe, dass wir CETA im Bundesrat von genug Ländervertretern aufhalten können. Es gibt viel zu tun.
Ist das immer freiwillige Arbeit oder bezahlt?
Das ist bezahlt. Ich bin Kampagnenleiterin, das ist mein Job.
Beim Elevate Festival wird es diesen Sonntag eine Diskussion unter dem Titel "Anti-Social Media" geben. Gefragt sind Strategien zur Gegenwehr bei "Online Extremismus, Shitstorms, Falschmeldungen", so steht es im Elevate-Programm. Gefragt, wie du mit Hassposts umgehst, hast du einmal geantwortet, du fändest es "sogar gut, wenn unter meinen Blogbeiträgen krude Kommentare erscheinen." Warum denn das?
Ja, es ist so: Ich lösche viele Kommentare, die gegen die Menschenwürde sind oder wo gegen Menschen gehetzt wird. Einige Kommentare, wo gegen mich gehetzt wird, lasse ich allerdings gezielt stehen, weil ich denke, dass sehr intelligente Leser sich anhand solcher Kommentare sich selbst ein Bild machen können, was für eine Stimmung in der rechten Bewegung herrscht und welche Menschen das sind. Und wie die ticken. Da verrät es mehr darüber, wie rechte Strömungen ticken, wenn man sich anguckt, wie diese Leute hetzen, als wie wenn man den Anzugträgern von der AfD zuhört.
Danke Katharina Nocun für das Gespräch.