Erstellt am: 13. 9. 2016 - 11:15 Uhr
Zwischen Optimismus und Hetze
Nun ist auch in Berlin die Sommerpause endgültig vorbei, die Schule hat begonnen, alle sind wieder da. Doch der Sommer geht einfach weiter, jeden Tag Sonnenschein bei 30 Grad, die Schwimmbäder verlängern die Saison, es will und will nicht herbsteln.
Berlin im Spätsommer ist wunderschön - und total voll.
Alles sitzt draußen, chillt im Park, lungert vor Cafés und Spätis rum, cornert an den Ecken und bridgt auf den Brücken. Und doch ist etwas anders im Stadtbild – ganz Berlin ist zuplakatiert, schließlich wird nächsten Sonntag gewählt.
Radio FM4/Rösinger
Der Bürgermeister grinst verklemmt optimistisch von jeder Verkehrsinsel. Die Grünen verkünden: „Dein Gott, dein Sex, dein Ding“, die Linke fordert „Oma Anni bleibt“ und die AFD hetzt mal wieder, diesmal verschiedene Bevölkerungsgruppen (Schwule und Muslime) gegeneinander auf.
Aber es gibt auch neue Parteien und beim Spaziergang durch die Stadt kann man psychedelische Momente erleben, wenn sich plötzlich ein Hunderudel als Kompetenzteam vorstellt und Spiritualität in Lila gefordert wird.
Bündnis90/Die Grünen
Gerade zu Berlinwahl-Zeiten wird viel über den berühmtesten Berliner Bezirk - unser liebes Kreuzberg - geschrieben.
Wir gelten deutschlandweit als krasser Problembezirk, mit einem Problempark (Görli) einer Problem-U-Bahnstation (Kotti), Problem-Bewohnern (KreuzbergerInnen) und einer Problem-Bürgermeisterin (grün, lesbisch).
AFD
Die alteingesessenen KreuzbergerInnen schütteln über diesen Alarmismus nur den Kopf: Dealer im Park gibt es seit 30 Jahren, die Touristen nerven uns eh mehr. Die Junkies waren schon immer am Kotti - wo sollen sie denn sonst hin, wenn man sie vertreibt?
Aber es stimmt schon, dass es zwischenzeitlich alles noch ein bisschen krasser geworden war. Am Kotti mischten neue Akteure mit, die bandenmäßig organisiert Leute überfielen und bedrängten. Die Stimmung im Görlitzer Park war unter den Dealern aggressiver geworden.
Radio FM4/Rösinger
Für den Görlitzer Park ist nun nach monatelangen Diskussionen zwischen Anwohnern, Initiativen, sozialen Trägern und dem Bezirksamt ein typisch kreuzbergerisches Handlungskonzept entworfen worden.
Nach der Präambel: „Es geht uns dabei nicht darum, den Charakter des Parks grundsätzlich zu verändern. Der Görli ist in seiner Art einmalig und wird, ob wir wollen oder nicht, der Rowdy unter den Berliner Parks bleiben. Was wir wollen, ist ein Ort, den eine große Mehrheit der Kreuzberger*innen wieder als ihren Park betrachtet“, wird ein Konzept vorgelegt:
Radio FM4/Rösinger
Der Park ist für alle da, die ihn derzeit nutzen, niemand soll verdrängt werden. Also auch nicht die Dealer, betrunkene Partygänger oder Roma–Familien, die im Sommer dort campieren. Künftig sollen sich drei Sozialarbeiter gezielt um diese Gruppen kümmern und durch Projekte wie gemeinsames Kochen „nachbarschaftliche Kontakte“ fördern.
Auch den Dealern, in der Regel Flüchtlinge, sollen aktiv Hilfe und Beratung und Jobalternativen angeboten werden. Bezahlte „Parkläufer“ sollen im Park unterwegs sein und die „Kommunikation grundsätzlicher Verhaltensregeln“ übernehmen, „damit sich alle Besucher*innen, vor allem auch Kinder und Jugendliche, unbeschwert und angstfrei im Park bewegen können“.
Da schreit natürlich die CDU, die im Moment noch den Innensenator stellt, auf: (Klein-)Dealer miteinbeziehen – das geht nicht. Mit ihren Razzien vor Ort ist die Polizei allerdings auch kein Stück weiter gekommen.
Radio FM4/Rösinger
Nächste Woche kann es in Berlin politisch sowieso ganz anders aussehen. Die SPD wird sich wohl, wenn auch mit Verlusten, als stärkste Partei behaupten können, gefolgt von der CDU, den Grünen und den Linken. Der rechtspopulistischen AfD wird ein zweistelliges Ergebnis vorhergesagt, die liberale FDP liegt bei der Fünfprozentmarke. Die Piraten werden es wohl nicht schaffen.
Der regierende Bürgermeister Michael Müller machte sich bislang für ein rot-grünes Bündnis stark. Aber wahrscheinlich braucht es ein Dreierbündnis, um die notwendige Mehrheit im Parlament für eine Senatsbildung zu erreichen. Rot-Grün-Rot finden alle drei beteiligten Parteien schwierig, aber wünsch- und machbar.
Was natürlich alle beschäftigt, ist: Wie geht man mit der AFD, dem Kotzbrocken unter den Parteien, um, wenn sie ins Abgeordnetenhaus kommt? Ignorieren, noch nicht mal ignorieren, ächten, ausschließen, einbinden?
Radio FM4/Rösinger
Zum Glück bietet der Berliner Spätsommer viele Vergnügungen, um von diesen unerfreulichen Themen abzulenken. Auch Lollapalooza is in Town, die Begeisterung dafür hält sich jedoch in Grenzen.
Das neue vom Berliner Senat geförderte „Pop-Kultur“-Festival, am ersten September-Wochenende wurde schon eher gleichgültig aufgenommen. Es war schlecht besucht, die Venues lagen zu sehr verstreut, das Booking war auch nicht besonders aufregend.
Vielleicht auch, weil Berlin kein innerstädtisches Festival braucht. Wir haben hier das Glück, das ganze Jahr über jeden Tag interessante Bands sehen zu können. Das muss nicht für viel Geld mit Massen zusammengepfercht an 3 Tagen im Jahr am Stück erledigt werden.
Und wer Festival-Fan ist, der fährt lieber mit der S-Bahn raus aus der Stadt irgendwo nach j.w.d. (janz weit draußen) in die Pampa. Aus diesem Grund gibt es ja auch das „Berlin Festival“ nicht mehr.
Lollapalooza premierte letztes Jahr auf dem stillgelegten Flugfeld Tempelhof, musste 2016 aber umziehen, weil in den Flughafen-Hangars Geflüchtete untergebracht sind.
Lollapaloozas Umzug in den Treptower Park, die grüne Lunge Berlins zwischen Kreuzberg und Treptow, verärgerte nicht nur die Anwohner. Auch die Fans von Kings of Leon und Tocotronic wollen sich das bisschen Grün vor der Haustür nicht unbedingt von 70.000 Musik-Event-Fans tottrampeln lassen. Besucht wurde Lollapalooza trotzdem gut: Hauptsächlich von Expats und Touristen.
Die Touristen nerven halt wie immer arg.
Andererseits: Waren wir im Sommer nicht selber auch irgendwo Touristen? Sind glotzend in der Gegend rum gelaufen und haben uns an anderen Städten, anderen Landschaften erfreut?
Jedenfalls freut man sich in Berlin auf den Herbst, dann wird es ein bisschen leerer und die BewohnerInnen der beliebten Innenstadtbezirke können ihre Stadt, ihre Parks und Bars kurzzeitig auch selbst wieder nutzen. Vielleicht dann auch mit einer rot-rot-grünen Regierung.