Erstellt am: 12. 9. 2016 - 16:23 Uhr
Peace & Love & Stimmungsporno
Um es mit den Parquet Courts zu sagen: Dust is everywhere! Spätestens am zweiten Festivaltag wirkten die großen Wiesen vor den Bühnen wie eine Prärie. Riesige Staubwolken hüllten das Lollapalooza-Gelände im Treptower Park ein. Dazu warf die Sonne gnadenlos Hitze vom Himmel. Tausende blumenbekränzte Mädchen mit Emoji-Glitzer im Gesicht mutierten zu Instant-Cowgirls und die Boys dazu schüttelten den Staub aus den Bärten. Der guten Laune tat das freilich keinen Abbruch. Im Gegenteil.
Die Veranstalter der zweiten Deutschlandauflage des Festivalsfranchise aus den USA dürften nach dem Verklingen des letzten Radiohead-Songs am Sonntag beglückt in den makellosen Nachthimmel Berlins gestarrt haben. Selten kommt bei einem großen Festival von 70.000 Menschen pro Tag so eine positive Bilanz zusammen wie beim Lollapallooza 2016. Wetter, Publikum und Programmierung bildeten eine Allianz des Wohlgefühls. Kurioserweise dürften die Organisationsschwierigkeiten im Vorfeld dazu beigetragen haben. Anrainer-Initiativen wehrten sich per Klagen gegen das Festival, das aufgrund der Flüchtlingsunterbringung am Tempelhofer Feld in den großen Park südöstlich vom Stadtzentrum verlegt wurde.
Christian Lehner
3 Beobachtungen zum Festival als utopischer Ort.
- Die Mädchen haben die Buben aus der ersten Reihe vor der Bühne verdrängt und zwar durchgehend und nachhaltig.
- Willst du Frieden, schaffe Klos. Mehr Klos für die Menschheit!
- Alt und Jung, zumindest in Berlin funktioniert das. Hoher Ü-30 Faktor.
Erst Mitte der Woche garantierte das Verwaltungsgericht die Durchführung. Vielleicht verzichteten die Veranstalter aufgrund dieser unsicheren Situation auf jene Neuerungen, die auf großen Festivals zunehmend die Musik ins Abseits drängen. So fehlten nicht nur diverse Bespaßungseinrichtungen, sondern auch das bargeldlose Bezahlsystem, das aus dem gemeinen Festivalbesucher eine wandelnde Big-Data-Milchkuh macht.
Stattdessen erklärte man die Bühnen verbindende Puschkin Allee zur Freizone für Künstler im Zeichen des Steampunks und anderer fantastischer Darbietungen (wer’s mag). Die sonst so aufdringlichen Sponsoren verhielten sich ein wenig unaufdringlicher. Zur allgemein entspannten Lage trug auch bei, dass für jeden Besucher gefühlt eine Toilette zur Verfügung stand. Dabei bildete das Klappern der zufallenden Dixie-Klotüren eine eigentümliche Geräuschkulisse. Vorteilhaft für den Frieden am Gelände war sicher auch das Nichtvorhandensein eines Camping-Areals, sonst ein Garant für massenhaft torkelnde Alkzombies.
Auch der Booking-Gott war gütig: Mit Radiohead am Sonntag und den am Samstag eher gemütlich riffenden Kings of Leon standen zwei Acts auf den Hauptbühnen, die dem Publikum nicht allzuviel Körperlichkeit abverlangten und etwas für das Gemüt taten. Das Ackern besorgten zuvor die beherzt aufspielenden Lokalmatadoren von Tocotronic, der Hip-Hop-Gentleman G-Eazy, der auf mich wie Tool auf Rap wirkte und die Beginner, die sich, ihr Comeback, ihr Publikum und dessen Comeback feierten. Gnadenlos hingegen der Stimmungsporno von Major Lazer. Man staunte und wunderte sich, während die Zehenspitzen vibrierten. Diplo verstreute gefühlt mehr Trillerpfeifen und T-Shirts im Publikum als Beats. Die Fans wurden regelrecht in den Schwitzkasten genommen und mit Weltfriedenslogans beschossen. Sie zahlten tausendfach mit Schweißperlen. Es war Party, obwohl es sich ein wenig wie eine hyperventilierende Verkaufsveranstaltung anfühlte.
Christian Lehner
Gar nicht so erstaunlich war, wie gut die brüchige Seelenrührerei von James Blake die Spannung halten konnte und das noch vor dem Sonnenuntergang. Und so steht dieser Auftritt symbolisch für dieses gelungene Festivalwochenende in Berlin. Tausende Menschen standen, saßen oder lagen unter einer Wolke aus Staub und Hitze vor der großen Bühne und lauschten gemeinsam der Musik. Ja, das funktioniert gelegentlich auch bei einem kommerziellen Großfestival, das das Lollapallooza zweifelsohne ist. Und jetzt putze ich mir den Staub aus den Ohren.