Erstellt am: 4. 7. 2015 - 15:18 Uhr
Wer ist die Favoritin?
ORF
39. Tage der deutschsprachigen Literatur, 1. bis 5. Juli in Klagenfurt
"Hier sitze ich und frage mich, ob das Leben auch so oft über uns nachdenkt wie wir über das Leben", philosophiert Jürg Halter in einem Videoporträt, das wie eine Persiflage über Künstler daherkommt. Der Mann hat einen absurden Witz. "Eigentlich sollte ich im Gehen sprechen, weil im Sitzen kann ich fast nicht denken. Das macht mich natürlich nahbar, menschlich". Köstlich. Der Lesesamstag beginnt gut.
Signalrote Hosenträger hat Jürg Halter an und liest mit "Erwachen im 21. Jahrhundert" einen Text über Gedanken, Wünsche und Wunschvorstellungen eines Mitteleuropäers. Durchaus clever, doch auch recht selbstreflexiv. Und in der Intention Ronja von Rönnes Bachmann-Beitrag nicht unähnlich, wobei von Rönnes Protagonistin sich eine radikale Position wünscht; die sehnt sich danach, fliehen zu müssen über Grenzen.
Ground control to Jürg Halter
Bachmannpreis 2015
- Harmonie ist hier eine Strategie: Neue Gesichter in der Jury! Und klarerweise neue Texte am ersten Lesetag in Klagenfurt.
- Servus nach Buxtehude und Karlsruhe!: Ronja von Rönne, Monique Schwitter und Falkner tragen Texte oder ein Manifest vor - mit Reiseempfehlungen und Trendbarometer.
- Wer ist die Favoritin?: Das Finale beim Lesemarathon. Und erneut punkten Autorinnen.
Dem Juryvorsitzenden Hubert Winkels "dämmert" am Ende der Lesung Halters, dass hier Gott selber dieser Mensch im Text sei. Doch diese große Haltung misslinge. Sandra Kegel stellt sich eher eine Sonde vor, die Richtung Erde fotografiere. Für Juri Steiner erlebt ein Mitteleuropäer luzide Wachträume. Juror Klaus Kastberger fragt sich: Was ist bloß mit dem Schweizer Mann los? Der eine stolpere im Paradies herum (Tim Krohns Protagonist in "Zum Paradies"), der andere betrachte das 21. Jahrhundert nach gerade mal 15 Jährchen. "Dass die Kontinentalplatten ihren Weg gehen, das beruhigt mich. Sonst würde ich Angst kriegen", spielt Kastberger auf eine Passage an. Hildegard E. Keller will nicht in die Metaphysik verfallen. Über den Jurykollegen Kastberger sagt sie: Was ist bloß mit den österreichischen Männern los? In der Zeitung stehe, der Sommer lege jeden Tag ein Schauferl zu, so auch Kastberger. Und Meike Feßmann schießt in der Kritik gegen den Kritiker nach: Es werde langsam albern, wenn Kastberger Steiner das Interpretieren verbiete. Und dann kreist die Jury um sich.
Anna Baar "spricht, denkt, fühlt in zwei Sprachen", sie war in ihrer Kindheit in Zagreb "unter den Flügeln ihres Vaters" und "liebt die Rolle des Zaungastes". Das erzählt die heute in Klagenfurt Lebende in einem Videoporträt, in dem sie zwischen kaputten Häusern posiert. Warum sie das macht, wird bei ihrer Lesung klar. "Die Farbe des Granatapfels" ist eine Kindheitserzählung mit einer Nada, die in den Garten pinkelt, wenn die pubertierende Ich-Erzählerin auf der Toilette im Haus tagträumt. Nada heißt auf Kroatisch die Hoffnung, das spanische nada passt aber auch für den Text. Doch im Publikum ruft jemand "Bravo!".
Der Literaturjournalist Stefan Gmünder, der Baar zum Lesen eingeladen hat, eröffnet die Diskussion. Der Text drehe manchmal ins Pathos, sagt Sandra Kegel. Durch dieses pubertierende Mädchen gehe auch der nationale Konflikt, interpretiert Feßmann und ortet dort einen Konflikt auf der Textebene. Kastberger und Steiner sind sich einmal einig und loben Baar. Winkels und Keller sind nicht überzeugt, doch würden den Roman lesen.
ORF/Johannes Puch
"U-u-u-u-u!"
Teresa Präauer ist eine der vier österreichischen Autorinnen beim diesjährigen Lesemarathon, eingeladen von Hubert Winkels und eine klare Favoritin. "Oh, Schimmi " heißt ihr Text, den sie souverän mit Tempo und treffenden Soundeffekten präsentiert.
ORF/Johannes Puch
„Es war derartig ermunternd und wirklich witzig, ich fand es ganz toll“, freut sich Meike Feßmann über Präauer. Diese Figur ist Mann, Frau, Natur, Kultur, der Text hat Rhythmus, doch wenn die Handlung nicht in Schwung kommt, hilft wieder die Rhythmik, so Feßmann. "Meisterlich", findet Sandra Kegel, denn Präauer könne "Bilder zeichnen". Das ist eine Stalker- und Vergewaltigungsgeschichte, erklärt Kegel. Der Beschriebene sei ein Mann, der sich für eine Frau zum Affen macht, sagt Gmünder und erkennt ein Zitat Muhammad Alis im Text: “Ich habe mit einem Alligator gerungen, mit einem Wal gerauft, habe einem Blitz Handschellen angelegt, den Donner ins Gefängnis gesteckt. Erst letzte Woche habe ich einen Fels ermordet, einen Stein verletzt, einen Ziegel ins Krankenhaus geschickt. Ich bin so fies, ich mache Medizin krank.”
Wie ein guter Rap-Text, urteilt Winkels. Wobei er einwendet, dass ein guter Rap-Text auch gut vorgetragen sein muss, sonst habe er ein Problem. Kastberger hat ein Gefühl zwischen warm und kalt. Der Text wäre perfekt gemacht und erklärt Peter Fox' "Stadtaffe", Peter Fox nennt Präauer auch im Text. Indes hat Juri Steiner einen zoologischen Fehler entdeckt: Ein Affe hat keinen Schweif. "Das ist meine Fundamentalkritik an dem Text", sagt Steiner amüsiert.
Zum Schluss ein eindeutiger Liebling der Jury
Dana Grigorcea geht in ihrem Videoclip in weißen Sneakers spazieren. Thomas Bernhard würde nicht mal blinzeln angesichts dieser Vorstellungsrunde. Von ihrem Bachmann-Beitrag ist die Jury jedoch einig angetan. Da hat gerade eine, wenn nicht die Preisträgerin gelesen, meine Wette.
ORF/Johannes Puch
ABBA und Michael Jackson sind Referenzen in Grigorceas "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit", ideal also für eine Quizfrage beim Bachmann Song Contest. Der wird traditionell von Autor und Zeichner Tex Rubinowitz und dem Architekturjournalisten Maik Novotny Samstagabend im Lendhafen ausgerichtet.
Radio FM4
On demand: Alle Lesungen und Diskussionen zum Nachschauen
Aber natürlich geht es in Grigorceas Text um mehr als die eine Erinnerung an Michael Jackson, der sich auf einem Balkon in Bukarest zeigt und dabei Budapest begrüßt. Juri Steiner hat sich laut eigener Aussage die zweieinhalb Stunden Michael Jackson in Bukarest 1992 auf YouTube angeschaut. Was da in Rumänien vor sich gegangen wäre, könne er nur jetzt, nach Dana Grigorceas Text verstehen. Eine Träne drückt sich aus Dana Grigorceas Auge beim Lesen. Hubert Winkels fasst bei der Diskussion die Geschichte zusammen, Medienbilder Rumäniens werden erzählt und das Schlussbild ist in der Schweiz. Sandra Kegel ist vom Bild des Laufmaschenrepassierens angetan. Stefan Gmünder dankt, dass der vorbeilaufende Hund nicht überfahren wird und endet seine positive Kritik mit "sehr toll".
Morgen vormittag wird der Ingeborg-Bachman-Preis, dotiert mit 25.000 Euro, verliehen.