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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

2. 7. 2015 - 17:22

Harmonie ist hier eine Strategie

Zum 39. Mal wird um den Bachmann-Preis gelesen. Neue Gesichter in der Jury! Und klarerweise neue Texte am ersten Lesetag in Klagenfurt.

Skizze eines Porträts Ingeborg Bachmanns, das Logo des Bewerbs

ORF

39. Tage der deutschsprachigen Literatur vulgo das Wettlesen um den Bachmannpreis 2015, bis Sonntag in Klagenfurt

Es ist wieder so weit: Im Fernsehen lesen AutorInnen und danach wird darüber auch noch gesprochen! Luxus für die Neigungsgruppe Germanistik. Drei Tage lesen vorausgewählte AutorInnen ihre Texte, die sie eigens für den Bachmann-Preis geschrieben haben. Eine Jury stimmt schließlich am Sonntag ab, welcher Text diesmal der beste gewesen sein wird.

Heute, am ersten Lesetag, muss man sich erst die neuen Gesichter der Jury anschauen. Daniela Strigl hat ja nach sehr unschöner und missglückter Kommunikation die Jury verlassen. Arno Dusini ist auch nicht mehr dabei. Hubert Winkels hat den Jury-Vorsitz von Burkhard Spinnen übernommen und findet die Zusammenarbeit mit den neuen Jurymitgliedern "sensationell schnell gut". Normalerweise dauere so eine Eingewöhnung in die Psychologie und in den Diskurs viel länger: "Alle waren auf Anhieb als die Person erkennbar, die sie sind". Die Neuen, das sind Stefan Gmünder, Literaturredakteur des Standard, und Sandra Kegel, Literaturredakteurin der FAZ, sowie Klaus Kastberger, Leiter des Literaturhaus Graz.

Zehn weibliche und vier männliche AutorInnen treten heuer an. Soviel zur Statistik, sagt auch Zita Bereuter im Garten vor dem ORF Landesstudio Klagenfurt und wird von Kameras umrundet. Bei FM4 für alles, was mit gedruckten Werken zu tun hat, verantwortlich, berichtet Zita Bereuter dieses Jahr für 3sat aus Klagenfurt. Yay! Und schon schaltet die Regie vom Garten ins Studio. Die Bühnendeko ist quasi keine, sondern eine weiße Wand mit einem Zitat von Ingeborg Bachmann. Man wollte sich sowieso konzentrieren, auf Texte und Menschen.

Katharina Polajdan

ORF

Katerina Poladjan

Endlichkeiten

Bachmannpreis 2015

"Die Versuche, die eigene Endlichkeit zu überwinden, die sind doch interessant", sagt Katerina Poladjan in ihrem Videoporträt, so leise, dass man sich konzentrieren muss, und ein Trickfilm-Don Quixote reitet auf einem Pferd. Katerina Poladjan liest ihren Text "Es ist weit bis Marseille" im Stehen, das ist gut für das Zwerchfell und die Präsenz. Im Text geht es um eine Ann und einen Ed, mit Brüsten, Katze und Fichten.

"Wir kommen direkt von der Sex-Szene in die Todes-Szene", bemängelt Hubert Winkels. Alles zu viel für ein bisschen Sex, findet er. Warum ist die Unterwäsche in Zeile fünf schon ein Problem, fragt Hildegard E. Keller. Klaus Kastberger hätte sich "zum Aufwärmen einen grottenschlechten Text gewünscht, der Text ist OK", jedoch nur "ein Trailer für einen Roman" mit gattungstechnischem Problem. Juri Steiner macht literarische Jump-Cuts aus, doch für Sandra Kegel ist der Text sprachlich hinter seinen Erwartungen und für Winkels "schießt er sich ins Knie". Apropos schiefe Bilder.

"Mit einem Satz kann sie sagen: Ich bin zuhause, ich bin bei euch. Sie muss die Gründe nicht erklären, weil sie keinen auktoralen Erzähler hat", will Meike Feßmann die von ihr eingeladene Autorin verteidigen. Eingeladen ist Poladjan, 1971 in Moskau geboren und seit ihrem achten Lebensjahr in Deutschland lebend, von Meike Feßmann. Poladjan ist nicht die einzige Autorin unter den Antretenden dieses Jahr, die schauspielt. Monique Schwitter wird morgen lesen.

Public Viewing im Lendhafen: ZuschauerInnen des Bachmannpreis-Wettlesens in Liegestühlen

Radio FM4

Im Lendhafen beim Public Viewing sind noch Liegestühle frei. Ronja von Rönne ist schon da, sie wird am Freitag lesen

Selbstreflexion

"Es sind wieder diese Tage, in denen der Wettbewerb bei 3Sat gezeigt wird. Ich stelle mir sogar den Wecker dafür. Mitten am Tag", steht in Nora Gomringers Text mit dem treffenden Titel "Recherche". Die Deutsche trägt ihren Beitrag vor wie in einem Slam. Das Protokoll einer Recherche zu einem Text erzählt von einem äußerst faden Dasein als Autorin und vom Selbstmord(?) eines Dreizehnjährigen. Ihr Videoporträt schaut aus wie ein ZIB24-Kulturbeitrag, sie sagt: "Ich mache einen großen Unterschied zwischen Dichtung und Erzählung". Aha.

Während der Text Hildegard E. Keller an Hörspiele der 1950er Jahre erinnert, sagt Kastberger zu Gomringer: "Sie hat den Text aus der Cloud für uns geholt". Neo-Jurorin Sandra Kegel hat Nora Gomringer eingeladen und Saskia Hennig von Lange auch. AutorInnen gehen in ihren Vorstellungs-Einspielern jetzt eher nicht mehr über Brücken, sondern unter Stadtbahnbrücken und vorbei an leerstehenden Lagerhallen.

Saskia Hennig von Lange

ORF/Johannes Puch

Saskia Hennig von Lange

Der Autor Clemens Setz twittert Anagramme zum Namen der lesenden Autorin Saskia Hennig von Lange während ihrer Lesung: "Sinke hin von Aalgesang" oder "Sag's hinein von Anklage". Die Aufmerksamkeit entlang dieser erzählten Truckerfahrt in "Hierbleiben" driftet schnell weg: Ein Mann ist unterwegs, er entfernt sich von einer Frau mit einem ungeborenen Kind, doch gedanklich kommt er weder fort, noch weiter. Das Publikum im Saal klatscht verhalten. "Ganz großartig", urteilt Jurorin und FAZ-Redakteurin Sandra Kegel. Ihre Jury-KollegInnen sind weniger begeistert. "Vor lauter negativer Beschwörung hat der Mann der Frau eine Liebeserklärung gemacht", interpretiert Hubert Winkels. "So what?", dachte Hildegard E. Keller beim Lesen. "Je mehr Interpretationsweisen ein Text hat, desto besser", sagt Klaus Kastberger. Es gebe keinen Hinweis darauf, dass im Text ein Mann denke, bemerkt Juri Steiner. Dieses "Ich" als männlich zu denken, sei ein bisschen machistisch.

Im Garten des Landesstudio Klagenfurt Kärnten moderiert Zita Bereuter, um sie Kamerateams. Zita Bereuter im Gespräch mit Autor Wawerzinek

Radio FM4

Mittagspause, aber nicht Sendepause: Zita Bereuter moderiert für 3sat in Klagenfurt

Beschriebene Mangelzustände

Der deutsche Autor Sven Recker liest "BROT, BROT, BROT" und seine Figuren haben mit vielem zu kämpfen und Psychiatrieerfahrung.

Feßmann hat das als "klaustrophobischen Text unserer Therapie- und Ego- und Geschäftsgesellschaft" gelesen. Das Leiden an den "Second-Hand-Leben" der Figuren werde genau so beschrieben, bemängelt Winkels. Sandra Kegel sieht eine Staatsallegorie in diesem Text, die Figuren wären zu stereotyp. "Man könnte auch sagen, es sind Schablonen aus einem Klischeekaufhaus", schließt Stefan Gmünder an. Und für Klaus Kastberger ist es ein rein journalistischer Text, der reproduziert und ihn kalt lässt. In Sven Reckers Kurzbio steht, dass er als Not- und Katastrophenhelfer in Krisengebieten tätig war und jetzt JournalistInnen aus Libyen, Irak oder auch dem Sudan schult. Darüber würde man gern mehr erfahren.

Alex Wagner zu Valerie Fritschs Roman "Winters Garten"

In sehr arme Regionen der Welt zieht es nach ihren Angaben auch Valerie Fritsch. Die letzte Lesende des ersten Tages schickt einen filmischen Teaser zu ihrem Roman "Winters Garten" mit abschließendem Insert "Im Kopf von Valerie Fritsch" auf Schwarz vorweg. Im Clip ist ein opulentes Fest inszeniert. Das Fleisch auf den Tischen schaut recht roh aus, um Fleisch geht es auch im vorgetragenen Text. Ein Vater - einst Tänzer - trägt eine Beinprothese und leidet unter Phantomschmerzen. Die Grazerin Valerie Fritsch liest auf Einladung des Leiters des Grazer Literaturhauses Klaus Kastberger den Text "Das Bein".

Valerie Fritsch signiert Bücher unmittelbar nach ihrer Lesung bei den 39.TDDL

Radio FM4

Valerie Fritsch signiert unmittelbar nach ihrer Lesung ihren jüngsten Roman

Beinahe einig

Meike Feßmann stellt eine "kühne Souveränität der Mitte" fest und sagt, sie dachte, Boah, das wäre aber auf Affekt kalkuliert. Andererseits wäre da ein Einfühlungsvermögen in den Schmerz dieses Mannes. Das sei ein Lückentext, urteilt Kegel. Für Hildegard E. Keller ist es ein Memento Mori, das die Zeit dehnt. Eine komplett ödipale Geschichte sei das, analysiert Hubert Winkels. Sein Jury-Kollege Juri Steiner hat etwas begriffen dank dieses Textes - und das ohne selbst etwas amputiert bekommen zu haben, bemerkt er.

Valerie Fritsch

ORF/Johannes Puch

Valerie Fritsch

Für Kastberger ist dieser Text der bislang literarischste und er verweist auf das junge Alter der Autorin. Stefan Gmünder findet nichts, was er gegen diesen Text vorbringen könnte und spricht von einer "literarischen Patience". Winkels hält dagegen: Die Aufgabe, die sich der Text gestellt habe, sei überschaubar. Kastberger protokolliert gleich mit, damit er bei der Abstimmung für den besten Text die Jury-KollegInnen an Gesagtes erinnern kann.

Soweit alles harmonisch. "Es geht jetzt erst mal darum, dass wir zeigen, dass wir zu siebt miteinander reden können", sagt der Juryvorsitzende Hubert Winkels im Interview unmittelbar nach der letzten Diskussion, während Valerie Fritsch Bücher signiert. "Mal gucken, was morgen passiert!"