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Daniela Derntl

Diggin' Diversity

3. 5. 2015 - 14:08

Knallbunte Reizüberflutung

Der letzte Tag beim Donaufestival mit Holly Herndon, Autechre, Clark, Kim Noble, Rimini Protokoll,...

Die Neugründung des Abendlandes
Donaufestival, Tag 1: Stars of the Lid, Carter Tutti Void, Ben Frost, Gazelle Twin, James Holden.

Into the Void
Der Samstag beim Donaufestival Krems: Grouper, Battles, Helena Hauff, patten und mehr.

Rebuilding The World
Donaufestival, Tag 3: Godspeed, klingt.org, Platzgumer und mehr. Halbzeit beim Donaufestival.

Der Tag der Knaben
Erster Tag des zweiten Wochenendes: Nils Frahm, The Botanist, Alessandro Cortini, Noise Manifesto, Alva Noto u.v.m.

Love Is In The Air
Das Kremser Naturschauspiel: Planningtorock, Scott Mathew, Arca, Hard Ton, Christeene u.v.m.

"Masturbationstagebuch – Ja oder Nein? Immerhin hat’s Goethe auch gemacht!"

Um diese Frage kreist das Gespräch einer schräg vor mir sitzenden Gruppe von Donaufestival-BesucherInnen im Zug nach Krems und schnell wird klar, dass das Donaufestival interessante Gäste anzieht. Und auszieht.

Der zu Recht gefeierte Performance-Künstler und Publikumsmagnet Kim Noble lässt gleich zu Beginn seiner Video-Performance "You Are Not Alone" im Forum Frohner die Hüllen fallen und lässt uns tief blicken.

Statt einem Masturbationstagebuch, das bei Noble ohne Zweifel das Potential zum Bestseller hätte, protokolliert er lieber den Geschlechtsverkehr seiner Nachbarn in einem Sextagebuch, während er ihnen mit lautstarken Pornos eine ebenso erfüllte Zweisamkeit vorgaukelt. Diese herbei-phantasierte, tragischerweise nicht existente Beziehung lebt er auch vor seinen wenigen Bezugsmenschen, wie dem Supermarkt-Kassier Jon und dem LKW-Fahrer Lori, aus. Die beiden Männer werden zusammen mit flüchtigen Internet-Bekanntschaften zu seiner Obsession. Er stalkt sie und seine verzweifelten Versuche der Einsamkeit zu entfliehen bringen ihn auch dazu, so zu tun, als würde er in einem Baumarkt arbeiten. Dort wurde zwar seine Bewerbung abgelehnt, doch Kim Noble findet sich niemals nicht mit der Realität ab.

Er geht seine eigenen, absurd-anmutenden Wege und das macht "You Are Not Alone" zu einer extrem komischen, liebenswert verschrobenen und abgrundtief traurigen Angelegenheit. Die existentielle Sinn- und Wahrnehmungskrise von Kim Noble lässt einem das Lachen im Hals gefrieren und rührt zu Tränen, wenn er als "Lady in Red" auf einem Pferd davon galoppiert.

Aber Kim Noble war am zweiten Donaufestival-Wochenende nicht die einzige sehenswerte Performance.

Miss Revolutionary Idol Berserker

David Visnjic

Das pure Gegenteil zum beschaulich-gemütlichen Krems gibt es bereits am Nachmittag, mit einer knallbunten Reizüberflutung mit geschätzten 30 Japanern in schrillen Outfits, türkisen Perücken, Goldkonfetti, Wasserkübeln und Qietsch-Pop-Getöse. Die Theatermacherin Toco Nikaido und ihre Truppe "Miss Revolutionary Idol Berserker" rüttelt die Donaufestivalbesucher in Sachen japanischer Digital-, Pop-, Alltags- und Politkultur auf. Nach 40 Minuten kommt meine Kollegin Eva Deutsch nass, voller Glitzer, mit einem blinkenden Totenkopfhut und herrlich entspannt aus dem Happy-Massaker heraus.

David Visnjic

David Visnjic

Großes Kino ist auch die Ausstellung "Komm Schatz, Wir stellen die Medien um & fangen nochmals von vorne an" von Pippilotti Rist in der Kunsthalle Krems. Die mit Video-Installationen bespielte Ausstellung ist so träumerisch schön, man möchte am liebsten einziehen – ganz im Gegensatz zu den Situation Rooms des "Rimini Protokoll" im Messegelände, in denen sich die Protagonisten der globale Waffenindustrie tummeln.

Rimini Protokoll

20 Menschen betreten mit Tablet und Kopfhörer ausgerüstet die detailreich gestalteten Situation Rooms – in denen man durch Rollenspiele unterschiedliche Einblicke in die Welt der Waffen bekommt: mal ist man Friedensaktivist, dann wieder Manager eines internationalen Rüstungskonzerns, mal ist man Flüchtling, Kindersoldat, Drogenkurier oder Arzt.

Dabei verschwinden in dem atemberaubend präzis koordinierten Labyrinth die Grenzen von Virtualität und Realität. Man interagiert mit den Mitspielenden, zieht ihnen die kugelsichere Weste an, verarztet sie, schüttelt Hände, kocht, hisst die Flagge und schaut beim Töten zu.
Das Ergebnis ist ein 80-minütiger Brain-Fuck, der permanente Kugelhagel aus Informationen haut einen um.

Autechre

Nach dieser Überdosis an Eindrücken tauche ich in das dunkle Frequenzgewitter von Autechre ab: Harsche Noiseattacken, repetitive und zerspargelte Beats sind am Donaufestival nichts Neues. Die Musik von Autechre ist geometrisch, pure Mathematik, ein schwieriges Puzzle mit scharfen Kanten – das in der orientierungslosen Dunkelheit des Stadtsaals nur schwer zu lösen war: "Sind das überhaupt Autechre? Oder ist das vom Band?" fragen sich die Besucher neben mir enttäuscht, weil sie sich um das visuelle Konzerterlebnis betrogen fühlen.

Shrack & Ventil

Ein Konzerterlebnis der seltenen Art – nämlich mit gleich drei Schlagwerkern! – durfte man zuvor in der Halle 2 bestaunen, wo sich die beiden Wiener Bands Shrack und Ventil zu einer exzessiven Avantgarde-Jam-Session eingefunden haben. Es war ein nie enden wollender, mäandernder Strom aus komplexen Post- und Kraut-Rock-Grooves, treibenden Elektronik-Loops und arabischen Gesangesfetzen. Eine Kombination, die man in dieser Form hoffentlich noch öfter hören wird.

David Visnjic

Holly Herndon

Eine Mensch, ein Laptop, eine Bühne. Was normalerweise als das langweiligste aller Konzertmodelle gilt, geht bei Holly Herndon gar nicht anders. Denn sie macht nicht nur mit ihrem Computer Musik. Ihr Computer ist die Musik und besitzt ihrer Meinung nach eine größere emotionale Bandbreite als eine Violine: "My Laptop is a hyperemotional Instrument. It mediates all my relationships. I talk to my parents on skype, I check my bank-information online, I listen to music,… so all these hyperpersonal relationships and parts of my life are mediated through this machine. I write a lot of my own costum-software and so I am able to transcend my own physical state in a lot of ways."

David Visnjic

Die amerikanische Soundforscherin verwendet ein Programm, das ihr tägliches Browserverhalten in Musik umwandelt, das laut Eigenaussage "pretty messy" klingt. Dazu kommen Field-Recordings, Computer-Signale, verfremdete Stimmen und ASMR-Soundfiles. ASMR steht für "Autonomous Sensory Meridian Response" und meint akustische Sinnesreize, die ein Kribbeln und Gänsehaut erzeugen können – wie zum Beispiel flüstern, das Bürsten von Haaren oder Acryl-lackierte Fingernägel, die auf ein Display tippen, was Holly Herndons liebster ASMR-Trigger ist.

Hinter Herndons Bits’n’Bytes-Techno steckt allerhand Konzept-Kunst, die beim Konzert anfänglich spröde und stoisch wirkt, aber später ihre eigentümlichen Schönheit voll entfaltet.

Clark

Den letzten Tag beim Donaufestival beschließt der britische Produzent Clark – der wie Holly Herndon eine innige Beziehung zu seinen Maschinen pflegt. Doch bei Chris Clark handelt es sich eher um eine Hass-Liebe: "I think technology is bullshit. I think technology has become a sort of a crutch. And it makes our ideas very weak – musically. But I’m a techno artist and that’s the contradiction. It’s a paradox."

David Visnjic

Chris Clark ist ein Mann der Widersprüche und der Zerrissenheit, was man in seinen Platten und bei seinem Auftritt hört – Techno in allen Farben, Electro, Noise, Post Rock und Spurenelemente von Klassik.

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Clark folgt keinen Regeln oder Setlisten, sondern entscheidet spontan, was er spielen wird, und das macht sein Konzert vollkommen unvorhersehbar, aufregend und druckvoll. Aber zufrieden ist er nie: "I’m never really happy with what I’m doing. It’s bullshit. Artists become really bad when they are pleased with what they do. I won’t say that I don’t enjoy it, but generally, there is always stuff you can improve."

Die tanzende Menge beim Donaufestival hat dennoch ziemlich glücklich gewirkt bei seinem Set.