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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

3. 9. 2014 - 17:31

Coming Home

Ein paar Gedanken nach der Schreibpause. Über strategisches "othering", Verrohung, Verblödung und Heldenverehrung, deren Funktionen und Gefahren, da wie dort.

Jetzt sitze ich also wieder an meinem Schreibtisch zuhause, hab gerade Kollege Blumenaus Wahrnehmungsverschiebungen gelesen und mit meinen eigenen verglichen, die da so hin und her gegangen sind, von wegen zweieinhalb Wochen Wien ab Ende Juli, gefolgt von zehn Tagen England, acht Tagen incommunicado und zwei Tagen Wien und drei Tagen wieder zurück.

Sonntagabend in England angekommen, hatte ich mit Überraschung festgestellt, dass die führende Story auf allen Titelblättern und in sämtlichen Nachrichten aller Kanäle die Geschichte eines Kindes mit Gehirntumor war, dessen Eltern in Spanien verhaftet wurden, weil sie den Buben eigenmächtig aus einem englischen Spital entfernt und dorthin zur Behandlung gebracht hatten.
Keine Frage, die Sache war tragisch für alle Beteiligten, aber - wie man meinen könnte - von eher wenig öffentlichem Interesse. Wenn nicht das Gegenteil.

Es kam einem fast so vor, als wollte die britische Öffentlichkeit sich für eine Weile voyeuristisch in eine Familientragödie verkriechen, um nicht in eine beängstigende Welt hinausschauen zu müssen, die gerade immer eindeutiger in Richtung ihres dritten globalen Kriegs schlittert.

Die Berichterstattung aus der Ukraine schien Anfang der Woche eher kursorisch, kaum ein Wort über die West Bank, ich erwischte auch bloß einen kleinen, verirrten Kurzbeitrag zu den Ereignissen in der kolonialhistorisch verbundenen Nuklearmacht Pakistan, ja bis am Dienstag die Nachricht von Steven Sotloffs Enthauptung hereinkam, wurde selbst die Situation in Syrien und im Irak noch hauptsächlich mit Augenmerk auf die Frage abgehandelt, ob man vom Gemetzel nach Großbritannien zurückkehrenden Dschihadisten den Pass wegnehmen bzw. die Einreise verweigern dürfe.

Diese temporäre Tendenz des instinktiven Rückzugs auf die Inselposition passte gut zusammen mit der anderen großen Story des Augenblicks, der schleichenden Teil-Implosion der konservativen Partei, deren Unterhausabgeordneter Douglas Carswell übers Wochenende zur UK Independence Party übergelaufen ist.

Weil der Parlamentarier sich gern als grader Michel gibt, wird er seinen Sitz nicht einfach behalten und von blau auf lila umfärben, sondern im Oktober oder November in seinem Stammsitz Clacton-on-Sea eine By-election (eine auf den Wahlkreis beschränkte Mini-Unterhauswahl) ausfechten. Im Moment sieht es so aus, als würde er das haushoch gewinnen und somit als erster UKIP-Abgeordneter nach Westminster zurückkehren.

Und wo wir schon von "independence" reden: Gleichzeitig meldete die Meinungsforschung gestern eine dramatische Verringerung des Vorsprungs des beim schottischen Unabhängigkeitsreferendum favorisierten No-Votums. Und das wenig mehr als zwei Wochen vor dem Stichtag. Auf einmal steht es nur mehr 53% Nein zu 47% Ja, und die Dynamik geht unzweifelhaft in Richtung Ja (jetzt übrigens auch mit expliziter Unterstützung seitens unserer alten Freunde Franz Ferdinand).

David Cameron über den Woolwhich-Attentäter

EPA

Während gestern Abend im Londoner Paralleluniversum der jährlichen Awards des Männermagazins GQ Tony Blair zum Philanthropen des Jahres gekrönt wurde (kein Witz), sah in der echten Welt David Cameron also ziemlich schwierigen Zeiten entgegen. Wie konnte er da der Versuchung widerstehen, sich rechtzeitig zum kommenden NATO-Gipfel in Wales in die außenpolitische Macher-Rolle zu flüchten.

Gut, der Appetit auf eine erneute Beteiligung an kriegerischen Auseinandersetzungen ist in Großbritannien immer noch begrenzt. Das Trauma der parlamentarischen Ablehnung seines Syrien-Einsatzes vor genau einem Jahr sitzt Cameron noch in den Knochen (Großbritannien wirft derzeit über dem Irak nur Lebensmittel, keine Bomben ab).

Aber immerhin kann er auf die britische Musterrolle als Nummer zwei in Sachen Budgetaufwand für Rüstungsausgaben hinweisen.
Sein neuer Verteidigungsminister Michael Fallon wird heute in einer Rede für den Think Tank Royal United Services Institute als Vorbereitung auf den Gipfel die kontinentalen NATO-Verbündeten ausdrücklich mahnen, ihr Geld in Waffen statt in Sozialbudgets zu stecken.

Ein starkes Stück in Zeiten der Austerität, doch der makabere Umstand, dass eine britische Geisel offenbar als nächstes auf der Hinrichtungsliste des IS zu stehen scheint, macht jeden Widerspruch politisch unmöglich.

Laut undementierten Berichten in La Repubblica war Cameron sich offenbar am Wochenende nicht zu schade, bei einem EU-Treffen in Brüssel den gewagten Vergleich von Putin und Hitler zu bemühen. Zur Erinnerung: Cameron ist jener Mann, der 2010 in einem Interview meinte, Großbritannien sei 1940 im Kampf gegen die Nazis der "junior partner" der USA gewesen (die USA erklärten Deutschland tatsächlich erst Ende 1941 den Krieg).

Er weiß ganz offensichtlich nicht viel vom Zweiten Weltkrieg, am wenigstens davon, was damals in der Ukraine los war. Aber er kennt die "Appeasement"-Keule als in Großbritannien gängige politische Rechtfertigung jedes Militäreinsatzes und kennt - wie schon der große Philanthrop Tony Blair vor ihm - keine Scheu, sie in jedem möglichen Kontext nach Belieben einzusetzen.

Und das bringt mich zur anderen ungewohnten Geschichte der letzten Wochen: Seit 2001 hatte ich mich darauf eingestellt, in einem Land zu leben, das (gemeinsam mit den USA) den Rest der westlichen Welt in Richtung militärischer Einsätze zu drängen suchte, denen der deutschsprachige Raum jeweils mit Unverständnis und Skepsis begegnete. Ich hab halbe Nächte damit verbracht, Brit_innen zu erklären, warum man sich dort drüben, wiewohl man selbst an der Rüstungsindustrie mitprofitiert und bei Gelegenheit die USA um Hilfe ruft, aus einem gewissen Geschichtsbewusstsein heraus mit dem Säbelrasseln zurückhält.

Das war die Wahrnehmungsverschiebung, an die ich gewohnt war. Und mit der ist es jetzt wohl vorbei.

Ich kriege mit, wie man sich in Deutschland und Österreich mittlerweile herzhaft über die Weltfremdheit des Pazifismus mokiert und auf Stärke pocht, und ja doch, das klingt auf Deutsch noch ein bisschen furchterregender als auf Englisch.

Ich lese auf Facebook, wie die Hobby-Strateg_innen Konfliktszenarien durchspielen und selbstgefällig legitimes Abschlachten verhandeln, und wie sich dabei jene notwendige Vorstufe jedes Krieges, die man auf Englisch "othering" nennt (das Definieren entmenschter Anderer, denen man dann pauschal böse Eigenschaften zuordnen kann), unter den scheinbar vernünftigen Leuten in der geschützten Blase meiner sozialen Netzwerke in immer größerer Verbreitung manifestiert.
Der Irrsinn der Parolen des Ersten Weltkrieg ("jeder Schuss ein Russ" zum Beispiel) klingt plötzlich gar nicht mehr so fremd und unsagbar.

Indessen läuft in der BBC als Eigenwerbung für eine kommende Übertragung die gänzlich unironische Kriegsheldenverehrung der sogenannten Invictus Games, eines von Jaguar und Land Rover gesponserten Sportereignisses mit "unbesiegten" Kriegsversehrten aus 13 Nationen, die als mit dem Blut realer Schlachtfelder getaufte Gladiatoren gegeneinander antreten.

Und hier geht es nicht um die sportliche Überwindung von Gegensätzen, denn man bleibt unter sich: Die NATO-Staaten Kanada, Dänemark, Estland, Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Großbritannien und die USA, Verbündete aus Australien und Neuseeland, aus dem NATO-Beitrittskandidatenland Georgien und aus Afghanistan.

In einer Presseaussendung, die ich dazu heute bekam, steht:
"Der Irak war auch eingeladen, an den ersten Invictus Games teilzunehmen, hat aber verlautbart, dass es kein eigenes Team stellen wird. Der Irak will das Ereignis unterstützen, wird daher eine Delegation als Beobachter schicken und hofft, an künftigen Invictus Games teilzuhaben."

Kommt eben drauf an, ob man bis dahin eh auch als "unbesiegt" qualifiziert ist, das ist im Moment nicht so sicher. Man könnte gar nicht so viel essen...

Nein, ich will weder die Ereignisse im Irak, noch die in der Ukraine verharmlosen. Aber ich will mich von ihnen auch nicht verrohen oder verblöden bzw. zur Rettung politischer Karrieren von Leuten wie David Cameron in den Dritten Weltkrieg treiben lassen.

Auch wenn man selbst keine Verhandlungslösung für die Konflikte der Welt zu bieten hat, darf man die Normalisierung des Kriegsgedankens auf allen Seiten und das damit einhergehende Verkommen des außenpolitischen Diskurs zum Wettstreit gefährlicher Unerbittlichkeitsposen nicht einfach so hinnehmen.
Denn wenn einmal die Hemmschwelle zum bedenkenlosen Blutvergießen aus scheinbarem Pragmatismus gefallen ist, ist wirklich alles vorbei.