Erstellt am: 31. 8. 2014 - 10:21 Uhr
Al Pacino trägt in Venedig dick auf
Weltpremiere in Venedig: Ulrich Seidl schürft "Im Keller" nach der abgründigen Normalität der Österreicher.
Heldenzeit in Venedig: Vom fiktiven Fall eines Superhelden, der Auferstehung eines Italo-Arnolds und dem realen Aufstieg des Fußballgottes Messi. Die 71. Filmfestspiele von Venedig sind eröffnet.
„Vielleicht bin ich ja depressiv und merke nur nichts davon", sagte Al Pacino heute auf der Pressekonferenz, wenn er sich mit einem alten, vergesslichen Bühnenschauspieler vergleicht. Diesen Simon Axler, den verbitterten Romanhelden aus Philip Roths Bestseller „The Humbling“ gibt der 74-jährige Pacino in Barry Levinsons gleichnamiger Tragikkomödie „The Humbling“, die am Lido „Außer Konkurrenz“ läuft.
Beinahe wäre ich selbst an einer Überdosis grauem Gefühl gestorben angesichts Pacinos theatralischen Method Acting-Auftritts und noch dazu hat die New-Hollywood-Ikone („Der Pate“, „Hundstage“) gleich doppelt so dick bei den Filmfestspielen von Venedig auftragen als nötig.
The Humbling
In David Gordon Greens Wettbewerbsbeitrag „Manglehorn“ bestellt Pacino als desillusionierter Schlüsseldienst-Ladenbesitzer Schokotorte, als hätte die Speisekarte Shakespeare verfasst. Was einen sonst behutsamen, im Independent-Kosmos professionalisierten Regisseur wie David Gordon Green („George Washington“, „Joe“ ) zu dieser flachen, breiten und kitschigen Alten-Hommage getrieben hat, bleibt ein Rätsel. Immerhin reißt einen kurz Harmony Korine als White-Trash-Massage-Salonbesitzer in „Manglehorn“ aus der lethargischen Verblödung, genauso wie die wunderbare Greta Gerwig in „The Humbling“ als überdrehte Lesbe das Klischee vom alternden männlichen Künstler-Genie erträglich macht.
Ich seh, Ich seh
Aus gutem Grund unerträglich waren die radikalen Torture-Passagen - Stichwort: Superkleber - der österreichischen Filmemacher Veronika Franz und Severin Fiala („Kern“). In ihrem Spielfilmdebüt „Ich seh Ich seh“ deklinierten die Regisseure gestern in der Sektion „Orrizonti“ allerlei Subgenres durch. Schwebend leise bis brachial laut musste sich in der ungewissen Atmosphäre eines realistischen Psychothrillers, zwischen Body-Horror und Mystery eine junge Single Mutter (eine gute Susanne Wuest) in ihrem abgelegenen Haus gegen die Kinderspiele ihrer Zwillingsbuben (beeindruckend: Lukas und Elias Schwarz) bis aufs Blut verteidigen. Nach der harten Nervenprobe mit Schaben-Fraß und Scherenschnitten kann auch die Fantasie mit mir durchgegangen sein. Jedenfalls hörte ich unter viel Premieren-Applaus den Aufschrei meiner südländischen Sitzbarn: „Los austriacos!!!“ als sie im Abspann eine „Ulrich Seidl Film Produktion“ wahrnehmen konnten.
Das unfassbare Schweigen über den Genozid in Indonesien Mitte der 60er Jahre hallt auch in der zweiten Doku des US-Regisseurs Joshua Oppenheimer nach. In seiner ersten Doku, “The Act of Killing”, über die Ermordung von rund einer Million vermeintlicher Kommunisten, wurde einem übel davon, wie die brutalen Täter ungeniert stolz ihre Schandtaten vor der Kamera fünf Dekaden später in sadistische Reenactments verwandelten.
The Look of Silence
Oppenheimer schickt nun im diesjährigen Kandidaten für den Goldenen Löwen, „The Look of Silence“, den Optiker Adi zu den greisen und senilen Killern aus seinem Dorf, die noch vor seiner Geburt seinem Bruder die Eier abgeschnitten hatten und ihn verbluten
ließen. This is hardcore. Vielleicht bleibt man noch um einen Zacken mehr beunruhigt und fassungslos als in „The Act of Killing“, angesichts der Perversion des Zusammenlebens von Opfern, Hinterbliebenen, Tätern und ihren Nachfahren, wo die mörderischen Schreckensjahre kein Ende finden, weil sie bis heute geleugnet, tabuisiert und verdrängt werden – auch noch im hohem Maß von der aktuellen Regierung in Jakarta, der bis heute Genozid – Verantwortliche angehören.
Seine bohrende Geschichtsaufarbeitung hat Regisseur Joshua Oppenheimer in Indonesien mittlerweile Einreiseverbot eingebracht, wie er auf der Pressekonferenz erzählte. Sein Protagonist Adi musste nach den Dreharbeiten mit seiner Familie aus Angst vor Rache sein Heimatdorf verlassen und lebt seitdem an einem anonymen Ort.