Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Heldenzeit in Venedig"

Petra Erdmann

Im Kino und auf Filmfestivals

28. 8. 2014 - 11:43

Heldenzeit in Venedig

Vom fiktiven Fall eines Superhelden, der Auferstehung eines Italo-Arnolds und dem realen Aufstieg des Fußballgottes Messi. Die 71. Filmfestspiele von Venedig sind eröffnet.

Korruption, Baulücken und Budgetlöcher konnten auch heuer nicht gestopft werden. So kommt die Mostra auch in ihrem 71. Jahr, mit ihrer provisorischen Festivalarchitektur samt monotoner Gastronomie- und Konzernwerbecontainern, zu ihrem abgetakelten Charme eines Messe-Zentrums, den ich inzwischen lieben gelernt habe. Diese sympathische Unperfektheit und lächerliche Ambitioniertheit - die hat auch der Titelheld in Alejandro G. Iñárritu Eröffnungsfilm „Birdman“.

Bei Riggan Thomson (Michael Keaton) ist der Lack ab. Der abgehalfterte Hollywood-Schauspieler plant knapp 60-jährig sein Comeback in einem selbst inszenierten Broadway-Stück. Seine Karriere-Höheflüge als gefiederter Leinwand-Superheld Birdman sind Dekaden her. Nun sitzt er in einer schäbigen Theatergarderobe im Jogi-Sitz und weißer Ripp-Unterwäsche. Thomson ist mit seiner berühmten Fantasy-Figur im ständigen Dialog. Er halluziniert sie als sein negatives Gewissen mit aufgemotztem Federkostüm und Maske - mal am Klo sitzend, mal durch New York fliegend.

Michael Keaton spricht bei offener Türe mit Naomi Watts und Zach Galifianakis

"Birdman"

Micheal Keaton, Naomi Watts und Zach Galifianakis in "Birdman".

Ich war die letzte, die dem mexikanischen Weltschmerz-Episoden-Realisator („Amores Perros“, „21 grams“) Alejandro González Iñárritu gelassene Ironie zugetraut hätte. Genauso wie der Regisseur selbst auf der Pressekonferenz über seinen Wettbewerbsbeitrag gesagt hat, habe auch ich überrascht Erleichterung empfunden als Iñárritu das Genre gewechselt hat.

Sein pathetischer Alltags-Realismus mit Star-Power („Babel“, „Biutiful“), der mich regelmäßig aus dem Kinosessel vertrieben hat, scheint jetzt passé. Mit „Birdman“ ist Iñárritu ein komischer Kommentar über das Star-System gelungen - wenn auch konventioneller als David Cronenberg, der sich in seinem neuen Film „Maps to our stars“ ein ähnliches Thema weitaus radikaler vorknöpft.

Zwischen Komödie und Drama in wenigen Plansequenzen, also nahezu ohne Schnitt, durchleuchtet „Birdman“ virtuos die tragischen Egos und Eitelkeiten einer New Yorker Theatercrew, die Riggan Thomson zu neuem Ruhm verhelfen soll. Sein Bühnen-Rivale Mike Shiner (grandios Ed Norton – im Method-Acting-Wahn) stiehlt ihm die Show. Zach Galifianakis (diesmal zahm launisch in der Produzentenrolle), eine Naomi Watts in der Mid-Life-Crisis und Emma Stone als ehemals drogensüchtige Assistentin ihres Vaters – mit einem atemberaubenden Timing wechselt der starke Cast zwischen existenzieller Bühnenpräsenz und den privaten Künstlerattitüden, mit denen ihre tragisch komischen Show-Business-Figuren leben müssen.

Michael Keaton kämpft mit dem fast nackten Edward Norton

"Birdman"

Michael Keaton und Edward Norton in "Birdman".

Hauptdarsteller Michael Keaton, in Tim Burtons „Batman“ (1989) einst Superhelden-Pionier einer neuen Hollywood-Comic-Blockbuster-Ära, wurde für sein mäßiges Spiel selbst oft genug durch den Kakao gezogen. „Birdman“ wird wohl auch Michael Keatons Karriere eine Frischzellenkur verschaffen. Keaton gab sich auf der Pressekonferenz am Lido erleichert über Iñárritu Angebot in einem „Grown-Up-Movie, even if my character is pathetic“.

Die Auferstehung von filmhistorischen Helden

„Il Maciste“ war ein filmischer Volksheld und Muskelprotz im italienischen Kino Anfang des 20.Jahrhunderts – so eine Art prügelnder Italo-Arnold Schwarzenegger, der die Österreicher (Südtiroler) im Ersten Weltkrieg vermöbelte. Und der auch nach dem Tod des Original-Maciste-Darstellers Bartolomeo Pagano von weiteren Schauspielern übernommen wurde.

Ein Mann vermöbelt mit einem Soldaten einen ganzen Trupp anderer

Maciste Alpino

Einen Tag vor der offiziellen Eröffnung wurde mit der restaurierten Fassung von „Maciste alpino“ (1916) die Sala Darsena am Lido eingeweiht. Anstatt eines Container-Saals gleichen Namens leistet man sich nun einen massiveren Bau mit neuer Dolby-Surround-Anlage und bequemen „Couch“-Sesseln. Das erste Screening im neuen Audio-Saal-Paradies war absurderweise ein Stummfilm, der mit der Live-Orchester-Untermalung und seinem unsäglichen smoothen Jetzt-Zeit-Jazz die überdrehte Action-Patina von „Maciste alpino“ ruinierte.

Männer zwischen Kitsch und Krise

Die Karriere des größten lebenden Fußball-Helden lässt Regisseur Álex de la Iglesia in seiner Dokumentation "Messi" Bigger und Kitschier Than Life Revue passieren. Iglesia hat die Jugendfreunde, Lehrer, Teamkollegen und Meistertrainer des Sport-Wunders in einem gediegenen Restaurant versammelt, wo sie mit einem Glas Rotwein in der Hand oder mit offenem Mund Messis Ausnahmespiel und sein bescheidenes Naturell analysieren. Mit eingestreuten Reenactments, aber auch erstaunlich viel Homemovie-Material aus Messis frühen Trainingszeiten bleibt am Schluss eine hemmungslose Glorifizierung eines Mythos, in einem Setting, das mehr dem 80er TV-Soap-Style einer Folge aus „Dynasty – Der Denver Clan“ entspricht, wo das Wort „Steuerhinterziehung“ und rauer Alltag im Sportbusiness nicht die lange Rede wert ist.

Junger Messi-Darsteller beim Dribbeln

Messi

Gesellschaftskritik und Rachedrama bringt der südkoreanische Vielfilmer Kim Ki-Duk (Gewinner des Goldenen Löwen von 2012 mit Pieta“) wieder mal mit heftigen Blutorgien und beklemmender Hysterie zusammen. Doch „One on one“, das von der brutalen Konfrontation einer Selbstjustiz-Bande und korrupten System-Erhaltern in der Heimat des Regisseurs handelt, bleibt schematisch in seiner Psychologie wie in seiner Gewaltdarstellung stecken. Nicht nur die orientierungslosen Protagonisten von Kim-Ki Duk schlittern in wirtschaftlich unsicheren und druckvollen Zeiten in die Krise, auch renommierte A-Filmfestivals wie Venedig haben mit Industrie- und Marketing-Wandel zu kämpfen.

Nicht nur weil die digitale Umwälzung den Filmmarkt unaufhaltsam revolutioniert und ein Massenpublikum nicht mehr ausschließlich in Kinosälen exklusives Entertainment sucht. Nein, auch weil immer mehr Starregisseure es nicht mehr als ökonomischen Prestige-Gewinn verbuchen, ihre neueste Produktion in Eiltempo für eine Festival-Deadline fertigzustellen. Christopher Nolan blieb mit seinem Sci-Fi-Spektakel „Interstellar“ lieber noch in der Post-Produktion und befindet sich gerade in einer kryptischen viralen Werbekampagne. Der neue Tim-Burton-Film „ Big Eyes“, ein Bio-Picture über die exzentrische Malerin Margaret Keane etwa, der noch im Vorjahr als Venedig-Fixstarter 2014 gehandelt wurde, läuft hier nicht. Das hat Festivaldirektor Alberto Barbera mit Bedauern und einer gewissen Symptomatik bei der Eröffnungspressekonferenz zugeben müssen.

Willem Defoe sitzt mit einer anderen Person an einem Gasthaustisch

Pasolini

Willem Dafoe als "Pasolini"

Dennoch, 20 handverlesene internationale Premieren werden in den nächsten 10 Tagen im Wettbewerbsprogramm unter Barberas künstlerischer Leitung um den Goldenen Löwen kämpfen. Und es werden mit Garantie eigensinnige, vielfältige Kinoentwürfe im großen dunklen Raum projiziert. Abel Ferrara wird in „Pasolini“ Willem Dafoe den letzten Tag und die letzte Nacht des großen italienischen Poeten und Filmemachers durchleben lassen. Al Pacino will in David Gordon Greens „Manglehorn“ die Verbitterung eines Witwers überwinden. Am Freitag feiert der Österreicher Ulrich Seidl mit seiner abgründigen Dokumentation „Im Keller“ Weltpremiere, die hier „Außer Konkurrenz“ im Wettbewerb läuft. Seine Co-Drehbuchautorin Veronika Franz wird ihren, gemeinsam mit Severin Fiala („Kern“) realisierten ersten Spielfilm in der Sektion „Orrizonti“ präsentieren. Das Horror-Movie „Ich seh Ich seh“ wird am Samstag dem Publikum und der Jury die Augen öffnen.