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Christiane Rösinger Berlin

Ist Musikerin (Lassie Singers, Britta) und Autorin. Sie schreibt aus dem Leben der Lo-Fi Boheme.

2. 7. 2014 - 13:56

Kreuzberg im Belagerungszustand

Ausgerechnet die Berliner Grünen wollen ein von Flüchtlingen besetztes, leerstehendes Schulgebäude in der Ohlauer Straße polizeilich räumen lassen.

Seit einer Woche ist Kreuzberg im Belagerungszustand. Das Gebiet um die Ohlauer Straße ist von Tausenden Polizisten besetzt, als gelte es einen Staatsstreich zu verhindern, als wären wir im Krieg, bei einem Anti-Terror-Einsatz oder einer Geiselbefreiung. Aber es geht nur um eine Aktion gegen 40 verzweifelte Menschen, die in der Gerhart-Hauptmann-Schule in der Ohlauer Straße ausharren und die ein Bleiberecht in Deutschland verlangen.

Polizei in Berlin-Kreuzberg

Christiane Rösinger

  • Oranienplatz geräumt: Im April wurde der Kreuzberger Oranienplatz nach eineinhalb Jahren Besetzung durch Flüchtlinge mehr oder weniger freiwillig geräumt. (12.4.2014)
  • Vor dem Tor: Flüchtlinge demonstrieren in Berlin. Sie fordern bessere Lebensbedingungen und einen Abschiebestopp. Und Angela Merkel? Sie hält eine gute Rede - das war's aber auch schon. (10.11.2012)

Seit Ende 2012 lebten im Schulgebäude mehr als 200 Flüchtlinge, Obdachlose und Roma-Familien unter katastrophalen Bedingungen. Die Schule war überfüllt, es gab nur eine Dusche für alle. Zwischen den Bewohnern kam es wiederholt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Am Dienstag, den 24. Juni, leitete der Bezirk den Umzug der Flüchtlinge in andere Unterkünfte ein, so war es mit dem Senat vereinbart worden. Die Mehrzahl ließ sich darauf ein, aber etwa 40 Flüchtlinge und Unterstützer weigerten sich die Schule zu verlassen, sie fordern ein Bleiberecht in Deutschland und harren seit einer Woche auf dem Dach der Schule aus.

Alles begann, als im Jahr 2012 Flüchtlinge in einem Protestmarsch von Würzburg nach Berlin zogen, um gegen die Residenzpflicht zu protestieren. Sie schlugen ihre Zelte am Oranienplatz in Kreuzberg auf, und suchten dann im Winter in der leerstehenden Schule Zuflucht, was ihnen aus humanitären Gründen gewährt wurde.

Die meisten Flüchtlinge, von denen manche über Lampedusa und Italien nach Berlin kamen, sind bei einem Auszug direkt von Abschiebung bedroht. Ihre Verzweiflung ist inzwischen so groß, dass sie angedroht haben, sich im Fall einer Räumung vom Dach zu stürzen.
Angeblich wegen dieser Gefahrenlage blockiert die Polizei seit einer Woche das Gebiet um die Ohlauer Straße. Die großräumige Absperrung hat aber wohl eher den Grund, die Unterstützer und Demonstranten vom Ort des Geschehens fernzuhalten.

Ohlauer Straße

Clemens Aufderklamm

Denn auch alle Zugangswege zur Ohlauer Straße, sechs Parallel- und Querstraßen sind nicht mehr passierbar. Es verkehren keine Buslinien mehr in Kreuzberg, es gibt in diesen Straßenblocks keinen Zugang zu Lebensmittelläden, Arztpraxen, Kneipen, dem Seniorenstift. Anwohner müssen sich ausweisen und werden von bewaffneten Polizisten zur Haustür begleitet, Besuch muss angemeldet werden, Schulkindern wird morgens der Durchgang versperrt, sie müssen große Umwege gehen, selbst Kindergartenkinder werden eskortiert. Das alles nimmt imzwischen absurde Ausmaße an. Die Geschäfte in der Gegen leiden an starken Umsatzeinbußen oder haben gleich dicht gemacht - es kommt ja keiner mehr durch.

Die Anteilnahme und Solidarität großer Teile der Bevölkerung mit den Flüchtlingen ist aber durch diese Maßnahmen gewachsen.

Der durchschnittliche Kreuzberger wählt Grün (40%). Man ist erztolerant, dem Staat und seinen Institutionen gegenüber eher misstrauisch und allgemein für eine Änderung des unmenschlichen deutschen Asylrechts. Viele Kreuzberger sind selbst als Migranten nach Berlin gekommen. Dass nun aber ausgerechnet die grüne Bürgermeisterin für diese Farce verantwortlich ist und die Bewohner ihres Bezirkes in Haft nimmt, ist eine Ironie der Geschichte.

Tagsüber spielen sich an den vielen Polizeisperren idyllische Peace- und Hippie- Szenen ab. Vom Hip Hopper über den Lagerfeuermusikanten bis zum ganzen Chamber-Weird-Folk-Ensemble mit Geigen und Bratschen geht das Straßenmusikrepertoire. Das Gripstheater hat eine Solidaritätserklärung verlesen, das Gorki Theater war auch schon da. Junge und ältere Leute spielen Federball unter Polizeiaufsicht und werfen Frisbees über die Absperrung. Man trifft sich nicht mehr in Cafés sondern an den Absperrungen, um Präsenz zu zeigen. Manche picknicken auf der Straße. Am Samstag zogen mehrere tausend Menschen durch Kreuzberg und forderten ein Bleiberecht und eine andere Asylpolitik.

Seit einer Woche wurde hinter verschlossenen Türen wohl auch verhandelt, bislang ergebnislos. Sogar der 73jährige Grünen-Abgeordnete Christian Ströbele, er gilt vielen Kreuzbergern als der letzte aufrechte Grüne, stieg über Leitern und Dachluken zu den Refugees aufs Dach, und machte Hoffnung auf eine Lösung, erklärte aber auch warum alles so schwierig ist: "Dass Bezirk, Land und Bund unterschiedliche Kompetenzen haben; dass die Gewährung des Bleiberechts oder einer Arbeitserlaubnis gesetzlich genau geregelte Vorgänge sind, bei denen der Bezirk nichts zu sagen hat ist den Flüchtlingen sehr schwer zu vermitteln".

Plakat

Christiane Rösinger

Es tauchen mittlerweile immer mehr modifizierte Grünen-Plakate auf, mit Originalzitaten.

Was genau in der Schule passiert ist unklar, Pressevertreter werden nicht durch gelassen. Dafür wird wie wild getwittert und alle paar Stunden heißt es: "Kommt alle zur Schule es wird geräumt". Um die Informationen zu bündeln hat man vor der Absperrung jetzt einen Infopoint errichtet.

Am Dienstag Nachmittag schien die Situation zu eskalieren. Nach einer Schülerdemo kam plötzlich Hektik auf, noch mehr Polizisten blockierten die Straßen, Kolonnen von Polizeimannschaftswagen, im Berliner Jargon "Wannen" genannt, säumten mit Blauchlicht die Straßen. Immer mehr Leute vor allem Jugendliche und Studenten versammelten sich an den Absperrungen, zum ersten Mal wurde Pfefferspray gegen Schüler eingesetzt.

Der einwöchige Einsatz von ca. 1000 Polisten - darunter viele aus anderen Bundesländern herbei beordert - ist jetzt schon absurd teuer. Für dieses Geld hätte man wohl alle Berliner Flüchtlinge drei Jahre lang unterbringen, verpflegen und jedem eine Ausbildung finanzieren können!

Schließlich stellte die Polizei dem Bezirk ein Ultimatum: Entweder Räumung oder Truppenabzug. Daraufhin gab der Bezirk, sprich die Grünen, die Verantwortung in die Hände der Polizei, und die machen sich nun zur Räumung bereit.

Proteste in Kreuzberg

Raspberry Fields

Was sich alle Anwohner sehnlichst wünschen, ein Ende der Polizeibesatzung ohne Räumung, hätte zur Folge, dass die Schule unbewacht bliebe und sich wahrscheinlich in kürzester Zeit wieder mit Roma-Familien und Flüchtlingen füllen würde. Was gestern dann weiter passierte, ist dermaßen verworren, dass man nur annehmen kann, dass die Bezirkspolitiker entweder hoffnungslos überfordert oder einfach total durchgedreht sind.

Entgegen der vorherigen Zusicherungen hatte das grün regierte Bezirksamt die Polizei mittags aufgefordert, das Gebäude zu räumen, um sich am nachmittag wieder von dieser Aktion zu distanzieren: Eine Räumung wäre schon allein wegen der glaubhaften Suizidankündigungen der verbliebenen Flüchtlinge schlicht nicht zu verantworten. Damit stellen sich die Grünen gegen ihren eigenen Stadtrat, der wiederum die alleinige Verantwortung übernimmt und bereit ist zurückzutreten, sollte es bei einem möglichen Polizeieinsatz zu "Personenschäden" kommen oder die Aktion insgesamt scheitern.

Wahrscheinlich wird der arme Kerl geopfert, weil es, kommt es zur Räumung, die Grünen am Ende nicht gewesen sein wollen. In der Schule wird das weitere Vorgehen angeblich mit Polizeipsychologen besprochen, man geht von Polizeiseite davon aus, dass weiter verhandelt wird und alles "unterhalb der Schwelle des Zwangs" unternommen wird, um zu einer Lösung zu kommen.

Proteste in Kreuzberg

Raspberry Fields

Dass die Flüchtlinge sich tatsächlich vom Dach stürzen könnten - damit muss man rechnen. Es sind Menschen die verzweifelt sind und die unter furchtbarem Druck stehen: Nach einer jahrelangen Odyssee über Lampedusa nach Italien nach Berlin und nach Jahren in geduldeten Protestcamps sind sie jetzt doch von der Abschiebung bedroht.

Die taz schrieb dieser Tage in einem Kommentar:
„Bis heute scheint es bei den Verantwortlichen nicht angekommen zu sein, dass diese Flüchtlinge für ihren Protest keine Exit-Strategie haben. Das sind keine Bürgerkinder, die am 1. Mai ein wenig über die Stränge schlagen, am nächsten Tag aber wieder brav sind [...] Mehr als deutlich haben sie gemacht, dass es ihnen um das nackte Überleben geht. Solche Leute lassen sich nicht unbedingt von einer Hundertschaft Bereitschaftspolizei einschüchtern oder mit ein paar Almosen abspeisen“

Dienstag Abend beruhigte sich die Lage, Sokee und andere RapperInnen gaben ein Konzert an der Absperrung. Nachts wurde dann wieder getwittert: Räumungsgefahr: Heute Nacht! Im Moment deutet sich an dass die Polizei plant heute Nacht ab 4:00 die Schule zu Räumen. 4:00 UHR | KREUZBERG DICHTMACHEN | RÄUMUNG VERHINDERN!

Nach dem gestrigen Tag wird von den Berliner Zeitungen der Rücktritt der grünen Kreuzberger-Bürgermeisterin gefordert. Bis Mittwoch mittag dauert die Belagerung weiter an, Demonstranten und Unterstützer strömen wieder zu den Absperrungen.