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Thomas Abeltshauser

Filmjournalist. Berichtet von Filmfestspielen, unter anderem Cannes oder Venedig.

24. 5. 2014 - 16:07

Ende gut. Alles gut?

Die Filmfestspiele in Cannes gehen nostalgisch und mit großen Egos zu Ende und zeigt mit sehenswerten Werken noch einmal seine Relevanz. "Winter Sleep" von Nuri Bilge Ceylan gewinnt die Goldene Palme.

Ganz offensichtlich hat das Filmfestival in Cannes so seine Schwierigkeiten mit Anfang und Ende. (15.5.)

Jessica Hausner präsentierte "Amour fou", der neue Film der Dardenne-Brüder kämpft gegen seine Hauptdarstellerin und Steve Carrell ist der erste Oscarkandidat für 2015. (20.5.)

Noch sind die Preise in Cannes nicht vergeben, aber der letzte Film ist gelaufen, die meisten Kollegen sind abgereist, der Trubel des Filmmarkts schon seit zwei Tagen vorbei, das Küstenstädtchen verwaist. Und während ich noch idyllisch unter Palmen in der Sonne sitze und versuche, das Festival zu resümieren, kommt schon Nostalgie auf – über verpasste Filme, aber auch über gesehene, die ich jetzt schon vermisse. Und über befreundete Festivalkollegen aus aller Welt, die ich in der Hektik viel zu selten oder gar nicht getroffen habe und mit denen ich gerne noch bei einem Wein zusammengesessen hätte. Vielleicht ist es aber auch einfach das Schlafdefizit der letzten zehn Tage, das mir in den Knochen steckt.

Ein merkwürdig nostalgisches Festival

Am Programm des Festivals jedenfalls liegt es nicht. Es war sicherlich nicht der stärkste Cannes-Jahrgang, aber vieles bleibt doch in Erinnerung. Merkwürdig nostalgisch war aber auch das Festival selbst ist in diesem Jahr. Mit großen Vorführungen gefeiert wurden Wim Wenders „Paris, Texas“ Dreißigster (Goldene Palme 1984) und Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ Zwanzigster (Goldene Palme 1994) – letzterer am Strand vor tausenden Fans, die den anwesenden Tarantino und seine Stars Uma Thurman und John Travolta zujubelten. Und im Wettbewerb waren etliche wohlbekannte Namen, die nicht wirklich Neues und Außergewöhnliches vorzuweisen hatten. Es ist mir nach wie vor ein Rätsel, warum ein Großteil der Kritiker das Fernseh-Bauerntheater von Mike Leighs „Mr. Turner“ oder den Pseudorealismus der Dardenne-Brüder hochjubeln. Aber gut...

John Travolta, Uma Thurman und Quentin Tarantino in Cannes

APA/EPA/JULIEN WARNAND

An großen Egos mangelte es in diesem Jahr auch auf Seite der Filmemacher nicht. Naomi Kawase hält ihren neuen Film „Still the Water“ für ein Meisterwerk und folgert daraus selbstbewusst: „Nach der Camera d’Or und dem Grand Prix gibt es nichts, was ich mehr will als die Goldene Palme. Ich habe nur das im Blick.“ Chancen hat sie mit ihrem Film durchaus, zumal sie nur eine von zwei Regisseurinnen in diesem Wettbewerb ist (die Italienerin Alice Rohrwacher ist mit ihrem „Le Mer“ weit abgeschlagen), aber ob sie sich mit ihrem öffentlichen Selbstlob einen Gefallen getan hat?

Von ihrem Konkurrenten ist man so was schon gewohnt. Der Kanadier Xavier Dolan, mit 25 Jahren das Nesthäkchen des Wettbewerbs, hatte sich schon vor zwei Jahren beschwert, als sein „Lawrence Anyways“ mit der Nebensektion Un Certain Regard Vorlieb nehmen musste. Jetzt ist er, nach einem Abstecher mit „Tom à la ferme“ im Wettbewerb von Venedig letzten September, mit seinem bereits fünften Spielfilm endlich im Olymp des Weltkinos angekommen – und will dort auch Gott der Götter werden. „Ein Sieg wäre eine herausragende Botschaft für meine Generation“. Kleiner macht er es einfach nicht, das war auch in seiner Tragikomödie „Mommy“ zu sehen. Und zu bewundern. Denn bei seiner Geschichte um eine unbändige Mutter und ihren ADHS-Sohn, der mit seiner hyperaktiv-aggressiven Art nicht nur sich, sondern auch seinem Umfeld schadet, ist schlicht atemberaubend. Gedreht ist der Film in quadratischen Format, das die Enge bebildert, in der dieser Junge aufwächst. Und was für ein berauschender, unfassbarer Augenblick, als er mitten im Film, in seinem glücklichsten Moment, den Bildrahmen aufzieht und plötzlich die ganze Leinwand erstrahlt. Und nein, das ist nicht kitschig oder prätentiös, sondern ganz, ganz groß.

Xavier Dolan wischt sich Träne aus dem Auge

APA/EPA/JULIEN WARNAND

Xavier Dolan weint nach dem Screening seines Films "Mommy"

Und da kommen wir auch schon zur ersten von vielen Querverbindungen und roten Fäden dieses Festivals, die sich im Laufe der zehn Tage zwischen Filmen herausgebildet haben. Am selben Tag wie „Mommy“ lief in der Sektion Un Certain Regard Asia Argentos „Incompresa“, das sich als nicht minder wildere Schwester zu Dolans Film entpuppte. Darin exorziert die Tochter des italienischen Horrormeisters Dario Argento deutlich ihre eigene Kindheit und macht die Selbsttherapie zu großer Trashkunst. Kein Film hat mehr Spaß gemacht als ihre brutalkomische und zutiefst tragische Geschichte eines Mädchens, das zwischen ihren zwei egomanisch-hysterischen Künstlereltern aufgerieben wird. Zwei Filme, die richtig Gas geben und den Schmerz und die Verletzungen der Kindheit in große In your Face-Kunst verwandeln. Und die einem den Glauben an die Wucht des Kinos zurückgeben.

Asia Argenta vor Fotografen

APA/EPA/JULIEN WARNAND

Asia Argento

Und dann gab es noch zwei sehr unterschiedliche Filme, die das Filmbusiness und seine Mechanismen reflektieren. David Cronenbergs „Maps to the Stars“ ist eine ätzende Hollywoodsatire (auch wenn er im Interview behauptet, dass jeder Satz im Film so schon einmal gesagt wurde) und der sehr viel komplexere „Coulds of Sils Maria“, eine sehr viel wohlmeinendere Sicht auf die Zwänge und den Druck einer Schauspielerin, gespielt von Juliette Binoche. Ich kann mich an keinen Film erinnern, der so brillant und vielschichtig gezeigt hat, wie eine Person des öffentlichen Interesses mit ganz persönlichen Dingen umgehen muss.

Wer wird gewinnen?

Ein Filmfestival ist natürlich nicht zu Ende, bevor die Preise vergeben werden. Das passiert wegen der Europawahl ausnahmsweise bereits Samstagabend ab 19 Uhr. Das Rennen der 18 nominieren Filme ist offen wie selten und auch auf die Gefahr hin, völlig daneben zu liegen, was die Jury um Präsidentin Jane Campion und Mitgliedern wie Willem Dafoe, Jia Zhangke und Sofia Coppola entscheiden, hier meine subjektive Vorhersage, wer gewinnen wird:

  • Goldene Palme: „Winter Sleep“ von Nuri Bilge Ceylan
  • Grand Prix der Jury: „Still the Water“ von Naomi Kawase
  • Beste Regie: Xavier Dolan für „Mommy“ (nach -Gerüchten gewinnt für Abderrahmane Sissako für „Timbuktu“, den ich leider verpasst habe)
  • Beste Darstellerin: Anne Dorval in „Mommy“
  • Bester Darsteller: Timothy Spall in Mr. Turner“ von Mike Leigh (auch wenn es Steve Carell für „Foxcatcher“ verdient hätte)

Bei den Preisen der Nebenreihe Un Certain Regard ging Jessica Hausner für „Amour Fou“ leider leer aus. „White Dog“ des Ungarn Kornél Mundruczó gewinnt, der Jurypreis der Sektion geht an den Skandinavier Ruben Östlund für die tragikomische Beziehungsstudie „Turist“, der Dokumentarfilm „The Salt of the Earth“ von Wim Wenders und Juliano Ribeiro Salgado erhält den Spezialpreis.

Die Preisträger

Palme d’Or: Winter Sleep (Nuri Bilge Ceylan)
Grand Prix: Le Meraviglie (Alice Rohrwacher)
Beste Regie: Bennett Miller für Foxcatcher
Bester Darsteller: Timothy Spall in Mr. Turner
Beste Darstellerin: Julianne Moore in Maps to the Stars
Jurypreis: Mommy (Xavier Dolan) und Adieu au langue (Jean-Luc Godard)
Bestes Drehbuch: Andrey Zvyagintsev und Oleg Negin für Leviathan

Camera d’Or für besten Erstlingsfilm: Party Girl von Marie Amachoukeli, Claire Burger, Samuel Theis
Palme d’Or für besten Kurzfilm: Leidi (Simon Mesa Soto)
Short Films Special Mention: Aissa (Clement Trehin-Lalanne)
Ökumenischer Jurypreis: Timbuktu (Abderrahmane Sissako)

Un Certain Regard Preise

Un Certain Regard Preis: White God (Kornel Mundruczo)
Jurypreis: Turist (Ruben Ostlund)
Spezialpreis: The Salt of the Earth (Wim Wenders und Juliano Ribeiro Salgado)
Ensemble: Party Girl (Marie Amachoukeli, Claire Burger, Samuel Theis)
Darsteller: David Gulpilil in Charlie's Country (Rolf de Heer)

Quinzane Preise

Art Cinema Award: Les Combattants (Thomas Cailley)
Society of Dramatic Authors and Composers Prize: Les Combattants
Europa Cinemas Label: Les Combattants

Semaine de la critique Preise

Grand Prize: The Tribe (Myroslav Slaboshpytskiy)
Visionary Prize: The Tribe
Society of Dramatic Authors and Composers Prize: Hope (Boris Lojkine)

Fipresci Preise

Competition: Winter Sleep (Nuri Bilge Ceylan)
Un Certain Regard: Jauja (Lisandro Alonso)
Quinzaine: Les Combattants