Erstellt am: 20. 5. 2014 - 16:03 Uhr
Cannes zwischendurch
Ganz offensichtlich hat das Filmfestival in Cannes so seine Schwierigkeiten mit Anfang und Ende. (15.5.)
- Cannes zwischendurch
Jessica Hausner präsentierte "Amour fou", der neue Film der Dardenne-Brüder kämpft gegen seine Hauptdarstellerin und Steve Carrell ist der erste Oscarkandidat für 2015. (20.5.)
Eine Woche lang hat zumindest der nordeuropäische Teil der in Cannes versammelten Presse neben den Einschätzungen der Filme und festivalrelevanter News auch oft eine Anmerkung über das frühsommerliche Wetter in die verregnete Heimat geschickt, und das bisweilen nicht ohne Grund. Das hat sich am Montag schlagartig geändert, als an der Croisette ein Temperatursturz und Regenschauer so manchem das Gemüt verhagelten und den Regenschirmabsatz der plötzlich wie Pilze aus den Boden schießenden Straßenverkäufer in die Höhe trieb.
Am Wochenende strahlte nicht nur die Sonne, sondern auch das vielfältige Programm. Hausner präsentierte „Amour fou“, ihren ersten historischen Stoff über den Dichter Heinrich von Kleist und seine romantische Obsession zum Freitod. Der Film zeigt in streng komponierten Bildern und immer wieder schwarzhumorigen Dialogen die deutsche Oberschicht des 19. Jahrhunderts, von der Kleist mit seiner Schwärmerei eher belächelt wurde. Hausner ist ja eine Cannes-Veteranin, zuletzt war sie hier mit „Lourdes“ im Wettbewerb. „Amour fou“ lief am Freitagabend in der Sektion „Un Certain Regard“. Wie sehr sie in Frankreich geschätzt wird, merkte man bei der Premiere, bei der unter anderen der französische Regiealtmeister Claude Lelouche im Publikum saß. Hausner war ziemlich nervös bei der Präsentation auf der Bühne, dabei gab es dafür gar keinen Grund: „Amour fou“ wird von vielen Kritikern, die ich hier gesprochen habe, als ihr bisher bester Films gesehen. Und er wäre auch dem Wettbewerb gut zu Gesicht gestanden.
Festival de Cannes
Einen ungewohnten Stoff hat sich David Cronenberg gesucht. „Maps to the Stars“ ist eine bitterböse Hollywood-Satire, die das Studiosystem als inzestuöses Biotop voller Neurosen, Lügen und Eitelkeiten zeigt. Julianne Moore als in die Jahre gekommene Schauspielerin, die ein Comeback versucht, darf hier wunderbar über die Stränge schlagen. Bei weniger begnadeten Schauspielerinnen wäre das zur öden Karikatur geworden, Moore lässt einen hinter der Komik den Schmerz spüren.
Oft erweist sich das Cannes-Festival ja im Rückblick als das Best-of des Weltkino-Jahrgangs und als Startrampe für die Academy Awards im kommenden Februar. Als erster Anwärter für eine Oscar-Nominierung als bester Darsteller wird bereits Carrell gehandelt, den man bisher nur als Komiker kannte. In Bennett Millers düsterem Ringerdrama „Foxcatcher“ verkörpert er, mit Nasenprothese und falschem Gebiss fast unkenntlich, den erzkonservativen Millionärserben John du Pont, der den Olympiasieger Mark Schultz (Channing Tatum) unter seine Fittiche nimmt und bald auf seinem Anwesen ein Trainingscamp für das ganze US-Ringerteam installiert, um sich auf die Olympischen Spiele in Seoul vorzubereiten. Miller macht aus der wahren Geschichte eine komplexe Studie über Männer, Macht und Missbrauch. Und Carrell ist großartig als verschrobener und zunehmend psychopathischer Abkömmling.
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Enttäuschend dagegen der neue Film der Dardenne-Brüder, mehrfach ausgezeichnete Cannes-Veteranen. „Deux jours, une nuit“ erzählt von einer jungen Frau in Belgien, die aus ihrer Firma entlassen wurde, nachdem der Boss die Mitarbeiter aus Kostengründen vor die Wahl gestellt hat: Entweder alle bekommen einen Bonus ausgezahlt, und sie muss gehen, oder alle verzichten auf die einmalige Auszahlung, und sie kann bleiben. Ein Wochenende lang versucht die psychisch labile Frau, ihre Kollegen zu überzeugen, für sie zu stimmen. Eine simple Geschichte, gewohnt effizient und konstruiert erzählt, doch diesmal funktioniert die Dardenne-Formel nicht. Denn: Dargestellt wird diese Frau von Frankreichs international erfolgreichster Schauspielerin Marion Cotillard, und so gut sie auch spielt, gibt es doch einen ständigen Widerspruch zwischen ihrem Starimage und dem filmischen Sozialrealismus der Dardennes. Man nimmt ihr die belgische Arbeiterin in keiner Minute ab.
Überzeugender war da Hilary Swank in Tommy Lee Jones’ zweiter Regiearbeit „The Homesman“. In dem Spätwestern muss sie sich als alleinstehende Frau in einer rauen Männerwelt durchsetzen, was ihrer Figur besser gelingt als anderen Frauen der kargen Wildwestgegend des 19. Jahrhunderts. Drei von ihnen sind an den Anforderungen zerbrochen und wahnsinnig geworden. Nun soll die resolute Mary Bee (Swank) sie per Pferdewagen gen Ost bringen, wo sich ein Pfarrer der verrückten Seelen annehmen soll. Irgendwann übernimmt zwar Jones etwas selbstverliebt als alternder Westernheld einen Großteil der Leinwandzeit, aber es ist vor allem Swank, die im Gedächtnis bleibt.
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Zwischen den Filmen stehen dann Interviews auf dem Plan, und die sind oft so knapp und überlappend getaktet, dass bei einer Verzögerung von nur ein paar Minuten bei manchem Journalisten schon die Nerven blank liegen. Nicht jeder ist dabei so dezent wie jener Kollege, der allein im Aufzug wartet, bis sich die Tür schließt, um sich dann die Wut rauszuschreien. Das wahrscheinlich kleinste Kammerspieldrama dieser Festspiele – und ganz ohne Publikum.
Über Nuri Bilge Ceylans „Winter Sleep“ habe ich ja schon kurz geschwärmt, und der Film geht mir auch Tage später nicht aus dem Kopf. Wie Ceylan da anhand von Streitgesprächen seiner drei Hauptfiguren – ein Mann, seine Frau und seine Schwester – über die Gegensätze in der heutigen Türkei reflektiert, ist wirklich bemerkenswert.
Poetisch-philosophisch ist auch „Still the Water“ von Naomi Kawase, einer der immerhin zwei Frauen im Wettbewerb mit insgesamt 18 Beiträgen. Vor zwei Jahren gab es Proteste gegen den Herrenclub, bei dem fast ausschließlich männliche Regisseure eingeladen werden. Das Festival hat sich die Kritik zu Herzen genommen und nicht nur Jane Campion, bis heute die einzige Regisseurin, die jemals die Goldene Palme (1993 für „Das Piano“) gewonnen hat, zur ebenfalls ersten Jurypräsidentin ernannt, sondern sich auch um mehr Ausgewogenheit im Programm zumindest bemüht. Bildgewaltig erzählt Kawase ihr Familiendrama über Leben und Sterben, das auch mit seiner Darstellung der Naturgewalten an der japanischen Küste an Terrence Malicks Filme erinnert. Kawase hat durchaus Chancen, die zweite Palmengewinnerin der Geschichte zu werden.
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Cannes bedeutet natürlich nicht nur Filmkunst, sondern auch Starrummel und Business. Und vieles, was hier mit großem Tamtam in einem der Luxushotels präsentiert wird, taucht im Festivalprogramm gar nicht auf. So wurden die Actionrentner von „The Expendables 3“ gleich im Dutzend eingeflogen. Sylvester Stallone, Arnold Schwarzenegger, Mel Gibson und Co bretterten mit Panzern über die Croisette. Und auch die Jungstars des „Tribute von Panem“-Franchise wurden vor die Kameras und Mikros der internationalen Presse gestellt, um für den nächsten Teil zu werben, den noch niemand gesehen hat und der erst im November ins Kino kommt.
Ein paar Highlights hat das Festival auch im letzten Drittel noch im Programm, bevor dann am Samstag die Preise vergeben werden. Heute Abend steht mit dem Fantasydrama „Lost River“ das Regiedebüt von Indiedarling Ryan Gosling an, am Mittwoch der Kriegsfilm „The Search“ von Michel Hazanavicious, dessen Stummfilmhommage „The Artist“ hier vor drei Jahren Weltpremiere feierte. Und das kanadische Wunderkind Xavier Dolan präsentiert im Alter 25 Jahren mit „Mommy“ bereits seinen fünften Film, und erstmals im Wettbewerb. Ich persönlich freue mich auf Donnerstagabend. Da läuft im Open Airkino „Polyester“, ein Klassiker vom Trashpapst John Waters mit 150-Kilo-Drag Queen Divine. Und frische Luft braucht man bei dem Trashmeisterwerk auch, denn das hat Waters als Riechfilm gedreht – dazu gibt’s Odoramakarten, die man an bestimmten Stellen des Films freirubbelt – und dann mal Rosenduft in der Nase hat und mal den Mief gammeliger Schuhe. Ein alles andere als geschmackloses Spektakel.