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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

23. 2. 2014 - 18:47

Im Reich der Sinne

Für "Nymphomaniac 1 & 2" wird das Trio Infernal zum Quintett aufgestockt: Fünf Filmbessessene plaudern über Lars von Triers kontroverses Sex-Epos.

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Kinorezensionen, SchauspielerInnen-Porträts und Interviews mit RegisseurInnen

Als die ersten News von diesem Film die Runde machten, begannen viele unruhig auf ihren Sesseln herumzuwetzen. Die einen aus Vorfreude, die anderen etwas ängstlich oder ablehnend. Schließlich hat sich Lars von Trier seinen Ruf als Agent Provocateur des europäischen Kinos langjährig erarbeitet. Dass der umstrittene Däne nun seine Variante eines Pornofilms vorlegen würde, das sorgte für hitzigen Gesprächsstoff. Nun feierte "Nymphomaniac" in verschiedenen Versionen und Längen seine Premieren und natürlich, sagen die Lars-Kenner, ist es etwas ganz anderes geworden. "Antichrist" ist ja genauso wenig ein Horrorfilm wie "Melancholia" ein Apocalypse-Epos.

Sebastian Selig lebt im Kino, einem mit rotem Samt und zum Versinken einladenden Sitzmöbeln ausgestattetem Tempel der Lust und schreibt darüber in Hard Sensations, NEGATIV, in The Gap, Deadline oder auch Splatting Image.

Der kontroverse Extremist unter den Autorenfilmern wagt in seinem Werk zwar einen Blick unter die Bettdecke. Aber "Nymphomaniac" geriet zur epischen Auseinandersetzung mit Sex, Liebe, Gewalt, Depression, Lust und Leidenschaft auf vielen Ebenen. Ein zugleich intellektuelles wie lasterhaftes Opus Magnum kommt da in zwei Teilen ins Kino, mit einer wahnwitzigen Starbesetzung. Charlotte Gainsbourg, Stellan Skarsgård, Christian Slater, Shia LaBeouf, Willem Dafoe, Uma Thurman und andere wagen sich, teilweise von Pornodarstellern gedoubelt, tief unter die Gürtellinie.

Silvia Szymanski schreibt beim Filmblog Hard Sensations. Am intensivsten über Filme aus dem Golden Age of Porn und als 13-Jährige in ihrem Filmtagebuch. Romane schreibt sie aber auch.

Nymphomaniac

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Joachim Kurz ist Filmwissenschaftler und -kritiker, beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit Lars von Trier. Er ist Chefredakteur des Arthouse-Portals Kinozeit.de und sehnt sich nach einem eigenen Kino mit dem Namen "The Dark Room".

Überwältigung in der Dunkelheit

CHRISTIAN: Schon länger planten wir Filmbesessenen - Sebastian Selig, Silvia Szymanski und meine Wenigkeit - eine ausführliche Plauderei im plüschigen Ambiente zu diesem Großereignis. Jetzt sind in letzter Minute auch noch Joachim Kurz und Beatrice Behn zu uns gestoßen, die auch den gänzlich ungekürzten ersten Teil bei der Berlinale gesehen haben. Wir gießen uns jetzt Wein in unsere Gläser und lassen unseren Gedanken freien Lauf. Und ich frage mal in die Runde, was euer erster Eindruck von beiden Teilen war.

Beatrice Behn ist Filmwissenschaftlerin, schreibt regelmäßig Filmkritiken und da das nicht genug mit Film ist, leitet sie auch noch das International Comedy Film Festival. Privat guckt sie aber am Liebsten Blutiges, Gruseliges und Zeug mit Zombies.

JOACHIM: Nach dem Verlassen des dark room Kinos muss man sich ein wenig abschütteln wie ein nasser Hund. Man muss diesen Film erstmal loswerden, sich mit Gewalt von ihm freimachen, um sich ihm wieder annähern zu können. Das ist ja oft so bei crazy Lars, dass er einen zu verschlingen scheint - und diese massiven Überwältigungsstrategien provozieren immer auch den Instinkt, Widerstand zu leisten gegen diesen cineastischen Totalitarismus. Nicht allein deshalb ist der Rammstein-Song, der die musikalische Klammer zu "Nymphomaniac" bildet, ja typisch für den Regisseur - er lautet "Führe mich!" Und natürlich beinhaltet das auch immer "verführe mich". Der Sog, der einen hineinzieht in diese düstere Welt, ist beim ersten Teil von "Nymphomaniac" definitiv besser gelungen als im zweiten. Dennoch war ich ziemlich überwältigt, wenngleich das auf einer anderen Ebene war als bei "Melancholia", der mich völlig weggeblasen hat. Insofern gab es da auch ein klein wenig Enttäuschung. Aber es ist eine Enttäuschung auf verdammt hohem Niveau.

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SEBASTIAN: Ich sah beide Teile, so wie es den regulären Kinogänger nun ebenso erwartet, mit vier Wochen Abstand dazwischen. "Nymphomaniac Vol. 1" am frühen Neujahrsmorgen in Frankreich. Gleich der erste Moment, noch im Dunkeln, im Knarzen und Knacken, kurz bevor sich die Bühne überhaupt erhellt, war sogleich reinste Sinnlichkeit, ein derartig beschwingtes "fuck, wie geil" über die Möglichkeiten spürbaren Kinos, da war die Begeisterung wahrlich augenblicklich sofort voll da. Und dann setzt ja erst das Orchester an. Und was für eines… das reine Crescendo. Ein unaufhörlicher Ritt der Walküren. In den zweiten Teil bin ich dann zunächst etwas schwerer reingekommen. Der wirkte zunächst ein wenig wie aus dem Schlaf gerissen und musste sich erst wach klatschen. Sprudelt dann aber mit dem Enthusiasmus eines mit steifem Pimmel ins Bett kletternden Weisen in alle möglichen Richtungen ziemlich ungehemmt dahin. Hat mich nach vielleicht etwas zu stürmischen Küssen im unteren Bereich, dann doch wieder ähnlich intensiv mitgerissen, flachgelegt, verliebt gemacht, wie die erste Hälfte des Opus.

Der Inhalt:
Nachdem der alternde jüdische Intellektuelle Seligman (Stellan Skarsgård) die schwer verletzte Joe (Charlotte Gainsbourg) in der Gosse gefunden hat, beginnt eine Geschichte in der Tradition erotischer Geständnisliteratur. Über acht Kapiteln und zwei Teile erzählt die von einem scheinbar unstillbaren sexuellen Drang angetriebene Frau dem keuschen Einzelgänger Episoden aus ihrem Leben abseits jeglicher konventioneller Moral. (CF)

SILVIA: Ja, den ersten Teil fand ich auch schön leicht und lustig, eine Teeniesexkomödie über verwegene Mädchen. Dass Joe, neben ihren Abenteuern, auch ihren naturverbundenen, hübschen Papa liebt, gibt sentimentale Wärme dazu… das ist alles gut komponiert, reizvoll und speziell, und mit einer Hauptdarstellerin, der man gern zusieht. Der zweite Teil mit seinem harscheren Sex und dem harten, kargen Sadismus gefiel mir zuerst auch. Aber mehr und mehr krankte er für mich daran, dass er irgendwann nicht mehr wusste wohin. Als phantasierte er nur noch und gäbe sich seinen immer dünneren und abstruseren Assoziationen hin. Man kann das als Suchtmetapher sehen, aber das mit der Sucht ist an dem Punkt längst ohnehin verstanden. Der Film wird wie ein aufgedrehtes Kind, das nach einem langen Tag partout nicht schlafen gehen will, obwohl alles gesagt und getan und alle Spiele gespielt sind. "Der Film lässt immer noch mehr aus sich heraus wachsen", sagte ein Freund. Das ist nur bis zu einem gewissen Punkt eine Qualität.

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Neue Antidepressiva und alte Tricks

CHRISTIAN: Ich schließe mich zunächst euren Überwältigungseindrücken an. Hab beide Teile ja jetzt auch nochmal gesehen und erneut die ungehöre Eleganz genossen, mit der crazy Lars hier inszeniert. Von ihm in diesem Film geführt und verführt zu werden, ist wohl wie von einem Bondage-Großmeister gefesselt zu werden, weil sich die Knoten immer wieder lockern und dann straffer werden. Mir ging es aber auch so wie dir, Silvia, dass für mich im letzten Drittel des zweiten Teils schon alles gesagt war. Das Handlungsgerüst, das ja diesmal wirklich nur ein Aufhänger für Überlegungen, Metaphern, Reflexionen ist, kracht da ganz schön und ich hätte manche Wendung nicht unbedingt gebraucht.

BEATRICE: Ich sah den ersten Teil in der Langversion zuerst und dachte "Hallelujah! Was auch immer für Antidepressiva der Lars jetzt nimmt, sie sind toll."

CHRISTIAN: Hatte einen ähnlichen Gedanken, als ich förmlich aus dem ersten Teil getänzelt bin, völlig berauscht von dieser unerwarteten Leichtfüßigkeit.

Die verschiedenen Fassungen:
Der Director's Cut von Vol.1 ist deutlich expliziter: Mehr Schwänze, mehr Mösen, längere Paarungen. Der Löwenanteil des 27 Minuten Extramaterials sind aber erzählerische Einschübe, ohne die der Film genauso gut funktioniert - mit Ausnahme von Kapitel 4. Schade auch, dass das Triptychon am Ende der Kinofassung nicht so ein unfassbares Gemälde aus ekstatischen Körpern bildet wie im Director's Cut. (JK)

BEATRICE: Eine Woche später war ich dann im Doppel-Preview mit den gekürzten Fassungen von Teil I und II. Als ich da raus kam, habe ich mir selbst versprochen mir nicht noch mal einen Lars von Trier-Film anzusehen, denn bis auf "Melancholia" gehe ich dann doch immer wieder raus aus seinen Filmen und bin genervt. Und zwar nicht im "ohoho, da hat er mich aber ordentlich provoziert und meine kleine mit Vorurteilen gespickte Welt durcheinandergerüttelt", sondern eher im Sinne von "echt jetzt, schon wieder der gleiche alte Trick und die gleiche blöde Message?"

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SEBASTIAN: Welche Message manifestiert sich denn da für Dich Beatrice?

BEATRICE: Da muss ich erstmal einen Disclaimer setzen und darauf hinweisen, dass ich mitnichten das Gesamt- oder Einzelwerk von Triers auf nur diese eine Message runterbreche. Da gibt es auf jeden Fall viel mehr, denn die von Trierschen Welten sind komplex. Was ich jetzt konkret meine, bezieht sich auf den Themenbereich Männlichkeit/Weiblichkeit. Es ist einfach immer wieder das Gleiche. Frauen benehmen sich "männlich" aggressiv und werden darin begleitet, beobachtet, ja regelrecht angefeuert und von der Erzählung immer weiter getrieben. Aber diese Beobachtung ist immer schon eine aus der Sicht eines normativen Mannes heraus. Und die Frau wird ihr Dasein nie als Freiheit erfahren, sondern als etwas, wofür man ausgestoßen wird und bestraft. Und so kommt es dann auch. Die Bestrafungen setzen ein (sowohl durch sie selbst, als auch durch andere von außen), werden immer exzessiver und kurz vor Schluss gibt es manchmal noch einen Moment der Ruhe, in dem es so aussieht, als würde das Schlimmste vielleicht nicht passieren. Tut es dann aber doch immer. Die Frau wird regelrecht vernichtet.

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Frauenbilder, Männerbilder, Menschenbilder

CHRISTIAN: Ich glaube ja, Freiheit gibt es in den Filmen von Trier grundsätzlich nicht, weder für Frauen noch für Männer. Wenn wir alle den ersten Teil so goutierten, sind wir ihm ja in die Falle gelaufen, weil man den wirklich im Sinne einer erotischen Utopie lesen kann. Fast eine Art "Emanuelle" für Intellektuelle. Aber Lars, der sich bekanntlich sehr an der liberalen Erziehung seiner befreiten Eltern abarbeitet, ist eben im Gegenzug ein Anti-Utopist. "Idioterne" ist diesbezüglich ein klares Statement, böser kann man alternative Gruppen-Ausbruchsversuche nicht abfertigen. Und deswegen kann und will er natürlich die Versprechungen der "Emmanuelle"-Ära, die nach dem Scheitern der sexuellen Revolution heute wie ein ferner Fiebertraum wirken, nicht einlösen. Deswegen kommt nach dem Polyamorie-Orgasmus des ersten "Nymphomaniac"-Teils, soviel muss verraten werden, die Katerstimmung. Und das geballte Unglück schlägt zu.

Die Kapitel:
CHAPTER 1 is THE COMPLEAT ANGLER
Gleich zu Beginn, die komplette bunte Gummibärchentüte, mit Freude im Herzen aufgerissen in voller Fahrt und runtergeschluckt.

CHAPTER 2 is JERÔME
Die Mathematik des ersten Mals. Akribisch durchgezählt. Durcherzählt. In die Sonne gewankt.

CHAPTER 3 is MRS. H
Mit strengem Blick. Lauthals im Treppenhaus. Uma Thurman and the whoring bed. Schmerzhaft lustig.

CHAPTER 4 is DELIRIUM
Bäume umarmen im Feuchtgebiet eines Krankenhausflurs.

CHAPTER 5 is THE LITTLE ORGAN SCHOOL
Das Hauskonzert. Schöner und sinnlicher wurde das noch nie zusammen gespielt.

CHAPTER 6 is THE EASTERN & WESTERN CHURCH (THE SILENT DUCK)
Nächtliches Warten auf den Antichrist, auf das einen dieser aus der Lethargie klatscht.

CHAPTER 7 is THE MIRROR
Der reine Verzicht. Mit dem weißen Farbroller in der Hand. In trauter Runde von "Sex Addicts".

CHAPTER 8 is THE GUN
Mit der Handfeuerwaffe in der Hand, an der Wand, auf die Couch.
(SS)

BEATRICE: Aber mich stört da nicht nur dieses wiederkehrende Frauenrollenmuster, denn das bringt ja auch ein Äquivalent in der Männerrolle mit sich, welches immer wiederkehrt. Stört euch das nicht? Dieses Männerbild? Oder besser gesagt dieses Menschenbild?

JOACHIM: Nein, das stört mich nicht im Geringsten - weil ich mich schon eine Weile von dem Mann/Frau-Denken bei Lars von Trier verabschiedet habe. Denn das ist ja überhaupt das große Missverständnis, das Lars von Trier spätestens seit "Breaking the Waves" entgegentritt: Seit diesem Film gilt er plötzlich als der große Misogynist, weil seitdem in fast allen seiner Filme Frauen - und zwar leidende Frauen - im Mittelpunkt stehen. Dabei ist es für mich sehr offensichtlich, dass er vielmehr in all diesen Frauenrollen vor allem sich selbst sieht und widerspiegelt - seine Bereitschaft zur Hingabe, zur Aufopferung, seine bedingungslose Empathie, das Verschwenden und die Bereitschaft, an den Abgrund und darüber hinaus zu gehen.

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CHRISTIAN: Da schließe ich mich an, für mich handeln die Filme von Lars von Trier immer nur von Lars von Trier.

JOACHIM: Wenn ich mir die Männer(bilder) anschaue in "Nymphomaniac", in "Melancholia", in "Antichrist", in der unvollendeten USA-Trilogie - gibt es da wirklich einen Mann, den man ernstnehmen kann? Für mich ist es vollkommen klar, dass von Trier seit "Breaking the Waves" eine zwar äußerst pessimistische, aber dennoch fast ausschließlich "weibliche" Perspektive eingenommen hat. In ihrem Leiden spiegeln sich sein eigenes Leiden, seine Ängste, seiner Depressionen wider. Das mag man selbst für das eigene Leben verneinen, aber daran kann man seine Weltsicht festmachen. Wenn man so will, besteht das "Problem" nicht in einer zu großen Distanz zwischen dem Regisseur und seinen "Heldinnen", sondern in einem Zuviel an Empathie, mit einer vielleicht zu großen Identifikation.

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Glück im Unglück (MIT SPOILERN)

SILVIA: "Nicht noch einmal ein Trierfilm", ich verstehe dich, Beatrice! Aber ich will noch ein paar ältere gucken, weil einige meiner liebsten Freunde sie hoch schätzen und ich das nachempfinden will. Wie du mir aber schon weiter oben aus dem Herzen geschrieben hast: In diesem trat leider, nach dem ersten Spaß, das ein, was ich befürchtet hatte: Dass alles umso schwieriger und zerstörerischer wird, je älter Joe wird. Auch jenseits der Männchen-Weibchen-Frage: Immer endet exzessiver Sex im Unglück. Die Message mag ich nicht.

SEBASTIAN: Ich vermochte da, ehrlich gesagt, wenig Unglück in der zweiten Hälfte für Joe auszumachen. Diese findet doch ganz wunderbar zu sich. Selbst dieses anfangs noch eingeredete "ich bin ja so eine böse und schlechte Frau" entpuppt sich als gänzlich unwahr. Zurecht sehr zufrieden und mit sich im reinen kuschelt man sich mit ihr zusammen in den Schlaf. Da fliegt man doch förmlich mit einem Hochgefühl aus dem Film. Geradeso, als wäre nochmals die Hure Babylons hereingeritten gekommen und hätte einen auf den starken Schultern des europäischen Kinostiers aus dem Saal ins Licht getragen.

CHRISTIAN: Ich für meinen Teil finde schon, dass sich im zweiten Teil riesige Schatten über Joe’s Geschichte legen, beginnt er doch gleich mit dem Verlust des für sie Allerwichtigsten, der Libido. Ich sehe, wie immer bei Lars von Trier, auch keine emanzipatorische Entwicklung der Figur, sondern ein verzweifeltes, getriebenes Sich-Abstrampeln an der Existenz. Wenn Joe irgendwann der bürgerlichen Moral militant den Mittelfinger zeigt, dann ja, wie sie selber mehrmals deutlich sagt, nur um den Preis der Einsamkeit und Verbitterung. Wenn es irgendwo und irgendwann Glück gibt - und das scheint mir eine der zentralsten Botschaften des Films - dann in diesen kurzen Momenten der Ekstase.

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JOACHIM: Dazu gibt es ja diesen Satz, der sehr zentral ist und den ich mir am liebsten gerahmt übers Bett hängen würde: "Perhaps the only difference between me and other people is that I've always demanded more from the sunset. More spectacular colors when the sun hit the horizon. That's perhaps my only sin." Das ist ein Satz, aus dem vor allem Lars von Trier selbst spricht, als Mensch und als Filmemacher.

SEBASTIAN: Von Einsamkeit und Verbitterung keine Spur. Befreit unsere Heldin sich doch im Grunde nur von allem, was sie hat taub werden lassen: der Utopie eines verlogenen Ehe- & Familienglücks. Klatscht sich dann mit großem Wagemut und eisernem Willen wieder von allem frei (zudem noch, indem sie sich an der Literatur reibt). Findet für sich einen alles andere als langweiligen Weg, ihre Obsessionen in produktives Handeln zu überführen. Okay, kurz hab ich befürchtet, die ihr im Zuge dessen aufgeschwatzte erneute Mutterrolle würde sie letztlich doch noch an der Nase herumführen, aber nein, auch da im letzten Moment eine Kehrtwende. Auf der Hinterhof-Bühne, im Theater, der Durchbruch. Zwar mit Nasenbruch, aber okay, das Blut selbigen schmeckt bereits verdammt süß nach der ultimativen Freiheit, sprich: alles andere als bitter. Sonnenaufgang, ich komme. Wenn auch, nur um den visuellen Bogen in perfekter Spannung zu halten, im Dunkeln.

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Revolte und Gegen-Revolte

SILVIA: Hm. Auf zu vieles wäre zu antworten, aber ich picke mir noch einmal die beiden Punkte heraus, die mich an der "Message" am meisten wurmen (auch wenn ich den Film oft gut fand): das mit der angeblich gescheiterten Utopie - das Christian ansprach - und dem angeblich unspektakulären Sonnenuntergang (Joachim). Erstens: Ich kann die Utopie, so frei, sexuell und glücklich zu sein wie am Anfang, nicht aufgeben; sonst würde ich sterben. Die anderen sind nur bedingt schuld, denn es ist mein Job, mein Leben zu leben. Und zweitens: ein Sonnenuntergang - du hast mit dem Kitsch angefangen, Joe ;-) - ist unfassbar wundersam! (Wahrscheinlich sind wir gar nicht so weit auseinander, wir werten unsere Wahrnehmungen nur anders). Ich bin oft leider leblos, aber ich war als Kind und auch sonst öfter ekstatisch und glaube immer noch, dass das der angemessenere Blick auf die Existenz ist. Vor allem auf die Liebe und die Schwänze! Die kurze Galerie in "Nymphomaniac" lässt sie so aussehen wie Hautkrankheiten in einem Medizinbuch. Aber so sehen sie nicht aus!

BEATRICE: Ganz genau das meine ich auch, Silvia. Es geht mir nicht um einen Misogynievorwurf, das ist viel zu eng gedacht, denn - wie ich ja auch andeutete - geht es den Männerfiguren nicht besser. Es geht mir vielmehr um die Message, dass wir gefangen sind in sozialen, gesellschaftlichen, sexuellen Rollen und jedes Außerhalb immer als ein verzweifelter Ausbruch gezeigt und gewertet wird, der natürlich irgendwie bestraft (und in diesem Film noch deutlicher pathologisiert) werden muss.
Aber ich sehe schon, wir alle haben diese Struktur gesehen, nur bewerten wir diese anders. Ich empfinde sie als erstaunlich konservativ und habe einfach keine Lust mehr drauf. Und ja, Silvia, die Hautkrankheitenbildergalerie, die ist ein gutes Beispiel. Da nehme ich lieber die gezeigten Schwänze und gucke mir das jeweilige Gesicht dazu auch mal an, dann ist das gleich eine ganz andere Perspektive.

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CHRISTIAN: Das ist wirklich das spannende an "Nymphomaniac", dass zwar jedeR ähnliche Strukturen sieht, sie aber eben anders bewertet. Ich kann als großer Fan des Regisseurs manche Gegenpositionen sogar besser verstehen als hymnische, ungebrochene Verehrung. Lars von Triers dezidiert antiaufklärerisches Kino kreist deshalb immer um vergebliche Ausbrüche, um Determiniertheit, um Opfer, weil er sich selber als eines sieht. "Ich habe tödliche Angst vor dem Leben", lautet ein Schlüsselsatz des Regisseurs. Seine Filme sind Konfrontationen mit diesen Ängsten und weil jede Angst für ihn natürlich auch Faszination ausdrückt, sind es lustvolle Konfrontationen. In "Nymphomaniac" herrscht zudem eine pingelige Akribie, ein Katalogisieren der Lüste und Ängste, wie es berühmte Erotomanen wie den Marquis de Sade oder Sacher-Masoch auch auszeichnete. Mittels dieser Akribie bekommt man ja auch Kontrolle über das Irrationale.

JOACHIM: Joe setzt diesbezüglich auch die Schnitte, definiert die Themen, rafft, führt Figuren ein, lässt sie entgegen aller Wahrscheinlichkeit wieder auftauchen. Vor allem in den frühen Filmen Lars von Trier ist das ja auch sehr schön zu beobachten, wie der Regisseur selbst immer wieder im Film sichtbar wird - am eindrücklichsten in der Figur des Off-Erzählers in "Europa" (1991), wo diese Stimme immer wieder Regieanweisungen gibt, die Zeit je nach Belieben und Bedarf dehnt oder anhält. Und in "Nymphomaniac" ist Joe diesbezüglich die Herrin ihrer Geschichte, wie Lars von Trier selbst, wenngleich unterstützt durch die Assoziationen Seligmans. Dieser ist vielleicht die positivste Männerfigur seit langem in einem Lars von Trier Film - doch um welchen Preis? Er ist jemand, der alles versteht, der versucht, in allem noch das Gute zu sehen, ein einsamer Asket, der fremde Frauen zu retten versucht. Im Prinzip, wäre er nicht so warm gezeichnet, erscheint er als Karikatur des linksliberalen Elternhauses, gegen das der Regisseur immer schon revoltiert hat.

CHRISTIAN: Ich bin überzeugt, dass es einen weiteren Grund hat, warum Seligman eine positiv gezeichnete Männerfigur ist. Weil Lars von Trier sowohl in Joe als auch in Seligman steckt, das sind beides Seiten seiner Persönlichkeit. Im Prinzip ist das ganze ein innerer Dialog, wie ihn wohl jeder von uns öfter führt. Ein ständiges Für- und Wider, ein lautes Nachdenken vor Publikum. Und wenn Joe und Seligman, typisch für den Provokateur Lars, auch Themen wie Antisemitismus und Rassismus streifen, hadert der Filmemacher mit sich selbst und wiegt Argumente ab. Ihn nur in der Figur von Joe zu sehen, wo der reale Lars von Trier doch dem alternden Bücherwurm Seligman genauso nahe steht, wäre eine komplette Fehleinschätzung dieses ungemein dialektischen Films.

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Mea maxima vulva

SEBASTIAN: Für mich bleibt er als wundervoller Lustfilm hängen. Ein lustvolles und ungebremstes die Ideen sprudeln lassen, auch auf die Gefahr hin, dabei immer wieder den Rahmen zu sprengen. Ein Film voller Freude am Exzess. Ein lustiger Film. Ein geiler Film. Ein ausgelassen kluger Film. Dabei auch ein Feiern des Kinos, ein Feiern von Kinogeschichte. Nicht als Zitat, sondern indem man diese geradezu leichtfüßig weitertreibt, mit meisterlichem Geschick, perfekter Beherrschung nahezu sämtlicher erzählerischer Mittel. Der ganz besonders bunte Sonnenaufgang.

SILVIA: Oh. Ich weiß es nicht. Es ist ein weit verzweigter Film, und es ist aufschlussreich, was du zuletzt über Trier gesagt hast, Christian. Ich verstehe bei einem Mann in seinem Alter diese Opferhaltung und diese Angst vor dem Leben (also vor sich selber) nicht so richtig, in der sich meine jüngeren Freunde von ihm verstanden fühlen. Aber das ist nur ein vorläufiges Ergebnis. Irgendwas daran lässt mir noch keine Ruhe.

BEATRICE: Du nimmst mir die Worte aus dem Mund, Silvia. An "Nymphomaniac" kann man sich in vielerlei Hinsicht abarbeiten, so vielschichtig ist er. Und doch, ich merke, und das ist zu 100% Prozent subjektiv, dass ich keine Lust mehr habe, denn ich stoße immer wieder an dem Punkt an, dass ich bei seiner Weltenkonstruktion nicht mitgehen will. Das kommt selten vor, so gesehen ist das eben auch ein Merkmal, das für seine Kunst spricht. Man kann nicht ohne Emotionen oder Meinung aus einem Lars von Trier-Film kommen.

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CHRISTIAN: Für mich ist es die unglaubliche formale und inhaltliche Vielfalt des Films, die mich endlos fasziniert, dieses Kaleidoskop an Ideen, Theorien, bewussten und herrlich unaufgelösten Widersprüchen. Grandios auch, wie die überkandidelte Geschichte meist nur als Gerüst dient, für Momente der Schönheit, der Geilheit, der Bitterkeit und - was wir als zentralen Punkt noch gar nicht erwähnt haben - des Sarkasmus und der bitterbösen Satire. Von "Idioterne", "Dogville" und "Mandalay" bis jetzt zu "Nymphomaniac" erweist sich Lars von Trier ja auch als einer der größten Sozialsatiriker unserer Zeit. Von Uma Thurmans irrem Eifersuchtsauftritt bis zur Demontage des Designer-S&M-Sex unserer Zeit, mittels eines streberhaften Jamie Bell als Folterknecht, man könnte etliche Sequenzen aufzählen, wo sich Lars die Teufelshörnchen aufsetzt und hämisch ins Fäustchen lacht. Überhaupt, der Humor. Ich hatte das Glück, beide Teile nochmal inmitten eines sehr jungen und charmanten FM4-Publikums zu sehen, und da wurde herzlich und oft und gänzlich unzynisch gelacht. Das Lachen, für den Erotikphilosophen Georges Bataille etwas Göttliches, ist für den Depressionskranken Lars von Trier wohl der wirkliche emanzipatorische Gestus, dem sich sein Werk ansonsten verschließt. Und es darf dann eben auch, wie bei der FM4-Vorstellung, über Schwänze gekichert und geschmunzelt werden. Nur die Möse, um Joe sinngemäß zu zitieren, die ist heilig.

JOACHIM: Was mir im Sinn bleibt von diesem Film, ist nicht die Nacktheit, nicht dieses Kreisen um Schuld, Vergebung und Erlösung, sondern etwas ganz anderes, das typisch ist für Lars von Trier und das ich zugleich als "conditio humana" ansehe, die letztlich alle Kunst, alle Literatur und das Kino überhaupt erst möglich macht: Der Versuch, durch das Erzählen einer Geschichte die Vergangenheit zu ordnen, ihr eine Sinnhaftigkeit zu geben. Das erinnert mich sehr an die Psychoanalyse, die ja sehr offenkundig als Grundmodell für die Rahmenhandlung zwischen Joe und Seligman steht. Und es erinnert an den Satz von Mark Twain: "The only difference between reality and fiction is that fiction needs to be credible" bzw. dessen Abwandlung durch Tom Clancy "that fiction has to make sense". Das ist für mich die eigentliche Botschaft von "Nymphomaniac": Es geht um dem Versuch, dem Chaos des Lebens durch das Mittel des Erzählens und Einordnens einen Sinn abzuringen - selbst auf die Gefahr hin, dass dieses Unternehmen scheitert. Eines möchte ich allerdings nochmal erleben: Dass eine Geschichte bei Lars von Trier gut ausgeht. Aber so gut wirken die Medikamente dann wohl doch nicht.