Erstellt am: 29. 10. 2011 - 13:24 Uhr
Der Planet kommt
Da sitzen wir rund um den virtuellen Kamin und schwärmen: Sebastian Selig, Dr. Nachtstrom und meine Wenigkeit. Drei Filmbesessene, die aus unterschiedlichen Richtungen kommen, lassen ihren Assoziationen zu einem auserwählten Streifen freien Lauf und driften dabei schon mal ins fantechnische Delirium. Alles mit voller Absicht natürlich.
Ein Planet namens "Melancholia" ist schuld an der ersten Ausgabe dieser kleine Reihe, die hier in unregelmäßiger Reihenfolge stattfinden soll. Nicht nur auf Kollisionskurs mit der Erde ist dieser fatale Stern, sondern auch mit den Erwartungshaltungen vieler Cineasten. Lars von Trier, der dänische Kontroversenkönig, hat schon mit der Ankündigung, einen Katastrophenfilm mit Starbesetzung zu drehen, für Aufsehen gesorgt. Eine absurde Cannes-Pressekonferenz später, die den Regisseur zur persona non grata des Festivals stempelte, ist das Interesse enorm und köcheln die hitzigen Meinungen hoch.
Dabei eignet sich der Film selbst, gespickt mit großen Namen wie Kirsten Dunst, Charlotte Gainsbourg und Kiefer Sutherland, kaum als reißerisches Objekt der Provokation. Die Apokalypse à la Lars von Trier schleicht bewusst elegisch dahin. Bevor der fremde Planet alles Leben auslöscht - und das ist jetzt wirklich kein Spoiler - präsentiert uns der dänische Meisterfilmer ein bürgerliches Trauerspiel in zwei Akten. Eine Hochzeit in Upper Class Kreisen scheitert an der depressiven Braut, die innerlich bereits den nahenden Weltuntergang spürt und auch begrüßt.
"Melancholia", diese Versuchsanordnung über Sinn und Sinnlosigkeit, könnte man wohl auch am Theater inszenieren, als spöttisches Wortgefecht. Glücklicherweise hat Lars von Trier aber einen Film gedreht, der ganz unabhängig von seiner Geschichte auch mit atemberaubenden Bildern betört.
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Christian: Wie erging es euch im Vorfeld mit dem Film, wart ihr da skeptisch oder völlig der Euphorie verfallen? Und konnte er euren Vorstellungen gerecht werden?
SEBASTIAN SELIG geht viel ins Kino und schreibt dann darüber in Magazinen wie Splatting Image oder Deadline. 2011 hat ihn besonders intensiv Nicolas Winding Refns "Drive" umgehauen, von Lars von Trier liebt er wohl "Antichrist" und "The Five Obstructions" am aller-aller-innigsten.
Sebastian: Nach Berlin, wo auf dem Markt kurze, erste Bewegtbilder von tot in Zeitlupe vom Himmel regnenden Vögeln das Auge verzückten, dann im Mai nach den Berichten aus Cannes, dem Trailer, war klar: die Vorfreude auf "Melancholia" würde förmlich, nach qualvollen sieben Monaten Wartezeit, in diesem Herbst dann schmerzhaft angeschwollen, noch in der kleinsten Faser meines Körpers spürbar sein. Dann der Film. Und wie einen da Lars von Trier gleich mit den ersten Bildern abholt. Ich meine nicht nur mit dem qualvoll im Sumpf verendenden Hengst, dem mit dem Taschenmesser Weidenkätzchen pflücken, während sich hinter einem in Zeitlupe eingefrorene Verzweiflung breit macht. Nein, ich rede natürlich von der feststeckenden Stretch-Limo, mit der uns Lars von Trier hier gleich zu Beginn seines Meisterwerks sagt: Verdammt, ich weiß, wie ihr euch in den letzten Monaten so gefühlt haben müsst. Auf "Melancholia" wartend. Nicht vor und zurück könnend. Aber hey, jetzt geht's los. Und glaubt nicht, es würden irgendwelche Gefangenen gemacht. Und fuck, genauso kam es dann natürlich auch.
DOKTOR NACHTSTROM comoderiert das FM4 House of Pain, ist Journalist, Musiker, Autor und begeisterter Blogger. Sein Lieblingswerk von Lars von Trier ist die TV-Serie "Riget" (Geister).
Doc: Ich konnte es ja auch kaum mehr erwarten, seitdem der Trailer im Netz aufgetaucht war. Sagen wir so, "Melancholia" hat meine unfassbar hoch gesteckten Erwartungen nicht ganz erfüllt, aber wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, ist das eigentlich gut so. Ich hatte mich mit einer Großpackung Taschentücher bewaffnet und wollte dem Ende der Welt in Schönheit und traurigem Abschiedsschmerz entgegenweinen, deswegen hat mich das erste Kapitel des Films mit seinen deutlich humoristischen Gesten doch etwas verstört.
C: So erging es mir am Anfang auch. Ich hab aber sehr bald mit Lars von Trier mitgegrinst, als mir klar wurde, dass die erwartete Tottraurigkeit mit einem sehr gehässigen Humor kollidiert. "Antichrist" war ja auch ganz anders als die Vorabversprechungen in Richtung "Horrorfilm", der Mann genießt es, angedeutete Genrekonventionen auf den Kopf zu stellen.
D: Nimm Kiefer Sutherland - mein Gott, war der gegen alles besetzt, was man von ihm bis jetzt gesehen hat. Aber der Fehler lag bei mir, da ich einfach vergessen hatte, was für ein widerborstiger Mensch und Filmemacher (bei ihm ja ein und dasselbe) der Lars von Trier ist. Im Nachhinein muss ich ihm für die Besetzung des unglaublich witzigen Udo Kier danken und zugeben, dass ein bisschen (hoffentlich nicht zuviel) von der unerträglich duckmäuserischen und erzkonservativen Art der Rolle von Sutherland auch in uns allen steckt.
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C: Neben der rabenschwarzen Sozialgroteske, die im Zentrum der Erzählung steht, liefert uns Lars aber auch extrem stilisierte Momente der Vernichtung, bombastische Schauwerte, die man so noch nie auf der Leinwand gesehen hat.
D: Natürlich der Hammer, genauso habe ich mir das erwartet. Ich möchte das musikalisch mit einem anderen Apokalypsen-Film vergleichen: Wenn Emmerichs "2012"-Streifen sowas wie ein perfekt aufgeblähtes, aber im Kern leeres und langweiliges Orchesterwerk von Howard Shore wäre, dann wäre "Melancholia" im Gegensatz dazu ein packendes Streichquartett von Hugo Wolf.
S: Der unbedarft bombastische Schnulz eines 2012 rührt mich schon auch immer wieder. Da hat Roland Emmerich eine ganz wundervolle Formel gefunden, wie massenhafter Exodus ganz ohne aufgescheuerte Knie als großes unfassbar kitschiger CGI-Pathos aussehen könnte. So zauberhaft naiv abstrakt, so ganz mit Tränen in den Augen und zitternder Stimme vorgetragen, während es ringsum auf das wuchtigste knallt und raucht. Ein Untergang, der dabei ganz aufwühlend Aufbruchstimmung vermitteln will. Schon auch als Gegenentwurf zu Lars von Triers "Melancholia", der ja zurecht, mit vorfreudigstem Glitzern in den Augen, dem Untergang als Untergang entgegenfiebert. Aber im Grunde umarmen ja beide Filme die Apokalypse, auch wenn sich Emmerich natürlich, ganz wie Kiefer Sutherland in "Melancholia", mit entschlossener Naivität gegen das Unausweichliche auflehnt. Der Lust, die darin liegt, sich am Ende eben doch groß wegballern zu lassen, kann er sich einfach auch nicht verschließen. Da mag er noch so viele süße Arche-Noah-Fantasien an den Schluss pappen, wir sehen, die sind nur gemalt. Matte Paintings aus dem Rechner, die dem vorangegangenen Untergang nur als zart lächerliche Heile-Welt-Fantasie gegenüberstehen.
C: Herr Doktor, wenn ich an die genialen Scores von Howard Shore für David Cronenberg denke, muss ich den Herren in Schutz nehmen. Aber um beim Anlass unserer Plauderei zu bleiben: Was ist für euch das Schlüsselthema des Films?
D: Ganz platt formuliert: Wenn es einem nicht so gut geht, kann man eigentlich trotzdem der Gewinner sein. Ich möchte ja hier keinesfalls die Depression hochloben, da dies eine schlimme Krankheit ist, aber es ist doch interessant, dass die Hauptfigur Kirsten Dunst, die zu Beginn wirklich jedem auf die Nerven fällt, weil sie aufgrund ihrer persönlichen Probleme keine gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen kann, am Ende die einzige ist, welche Contenance bewahrt und sozusagen "aufrechten Hauptes" dem Ende entgegensieht.
S: Es geht um Sex und wie der einen, kommt er nur wuchtig genug daher, selbst aus der zauberhaftesten Melancholie reißen kann.
C: An welche Szene denkst du da eigentlich konkret im Film, Sebastian?
S: Nicht nur an das sich mit schneeweißem Busen an sprudelnder Quelle im kalten Licht des alles vereinnahmenden Mondes Räkeln. Das zieht sich ja durch den ganzen Film. Im Sex mit dem stetig anschwellenden Mond, erkennt Kirsten Dunst (die hier ja übrigens ganz sicher nicht umsonst Justine heißt), dass da eben auch eine ganz schön festigende Kraft in all der endgültigen Klarheit eines gewaltigen, letzten Super-Orgasmus liegt. Da mögen sie all die aufgesetzten Rituale von Gemeinschaft, die diese Hochzeitsgesellschaft abfeiert, noch so in ihrer abgeklärten Depression bestärkt haben, am Ende ändert sich da dank dem Super-Sex mit dem Planeten doch so einiges. Nicht nur für sie selbst, sondern eben auch für die Anderen um sie herum, denen sie dann mit aufrichtiger Liebe entgegentreten kann. Sie abholen kann bei ihrem verzweifelten So-Tun-als-ob und dieses in was ganz arg schönes Neues, Echtes und gleichzeitig auf einem anderen Level dann auch wieder Fantasievolles überführt. Im großen Schlussbild des Filmes, von dem ich mich scheue es hier vorwegzunehmen, feiert "Melancholia" dann diese Kraft der Klarheit nämlich auch als Fest der eigenen Imagination. Ende und Untergang nicht als Trauerspiel, sondern als gigantischer Triumph der Fantasie. Ein donnernder Befreiungsschlag. Ein Fanal auch des dann eben doch wieder Zusammenfindens. Nicht aufgesetzt, wie in all den Hochzeitsritualen zuvor, sondern eben ganz in echt. Als kindliches Märchen. Voll romantisch eben, nach all dem wilden Sex, der sie dafür erst mal aus all dem Hochzeitsquatsch herausreißen musste.
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C: Ich schließe mich jedenfalls dem Doc an, auch für mich ist "Melancholia" ein Film über die Depression, von latenter Wehmut bis zur eisigen klinischen Version. Glücklicherweise nur die erstere Variante kenne ich gut, weshalb mich viele Züge der Kirsten-Dunst-Figur ganz persönlich angezogen haben. Mein Lieblingsmoment im Film ist ja ein kleiner, stiller Augenblick. "I smile and I smile and I smile", entgegnet Dunst da den planlosen Menschen auf der Party, sie versucht ja mit aller Mühe zu grinsen wie die Anderen, aber es gelingt ihr nicht. Diese soziale Inkompatibilität hat etwas sehr Trauriges, aber auch Radikales an sich. So wie Charlotte Ramplings Mutterfigur schockiert, aber auch Recht hat in ihrem Weltekel. Was sind denn eure Schlüsselszenen?
S: Der Film lässt sich schwer auf eine Szene, ein Bild kondensieren, weil, wie richtig guter Sex, steigert sich das ja bis weit jenseits der Erschöpfungsgrenze immer weiter hoch, aber, okay, wenn ich beschreiben soll, bei welcher Szene ich, wie immer weit vorne sitzend, dann förmlich bis ganz nach hinten in die letzte Reihe des großen dunkeln Kinosaals gerockt wurde, wähle ich das geradezu unfassbar schöne Schlussbild.
D: Wieder im Gegensatz zu dem mich anwidernden "2012"-Dreck von Emmerich, der die Bedrohung mit unendlich vielen ermüdenden und unglaubwürdigen Dialogsätzen und Storylines erklären musste, war es bei "Melancholia" eine schockierend einfache Geste, die in einem Moment alles klar macht: Der Sohn von Gainsbourg und Sutherland hat eine Drahtschlinge gebastelt, durch die man beobachten kann, wie der die Erde bedrohende Planet an Umfang verliert, also an der Erde vorbeizieht. Nur dass er das eben nicht tut. Der Moment, als die Gainsbourg hindurchblickt und bemerkt, dass der Umfang Melancholias den Umfang der Drahtschlinge bereits gesprengt hat, gehört für mich zu den goldenen Filmmomenten, die in einem einfachen Bild alles erklären, was man wissen muss.
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C: Für mich ist es einerseits die Identifikation mit Kirsten Dunsts Renitenz, auf der anderen Seite aber auch das volle Verständnis für ihre Filmschwester Charlotte Gainsbourg, die sich mit der Depressiven herumschlagen muss, was mich in den Film reinzieht. Was ist euer persönlicher Bezug zum Film?
S: Du meinst, inwieweit das eigene, ausgelassen dem Untergang Entgegentorkeln, hier endlich einmal von einem Film adäquat ungezügelt mitgefeiert wurde? Ja, "Melancholia" ist ganz sicher, auch was das angeht, ein Geschenk, wie es dem Kino so vielleicht nur alle 20 oder 30 Jahre gemacht wird.
D: "Melancholia" ist definitiv ein Film, der mir nahe geht - weil eben wieder mal klar wird, dass Lars von Trier kein Filmemacher ist, der auf abstrakte Weise irgendwelche Drehbücher verfilmt, sondern immer sich selbst in allen Stoffen und Protagonisten einbringt und all seine Spinnereien auslebt. Diese ständige Psychoanalyse mag manchen auf die Nerven gehen, mich packt sie bei jedem Film von ihm aufs Neue.
S: Wie ging es euch nach dem Film? Setzte da gleich die Analyse ein oder war das mehr ein sprachloses von dannen Taumeln?
C: Ein Moment der totalen Überrolltheit. Und zugegeben seltsam gemischte Gefühle, weil ich mir so eine brutale Pulverisierung erwartet habe, die ich ja bei Lars von Triers Überfilmen "Breaking The Waves" und "Dancer in The Dark" kathartisch erlebt habe. Die ist ausgeblieben, aber schon einen Tag danach begann er richtig zu wirken.
D: Wie oben angemerkt, war ich auch zuerst mal nicht so ganz zufrieden, weil der Film nicht alle meine schon vorher gehegten Erfahrungen erfüllte. Aber je mehr ich darüber nachdenke und reflektiere, desto mehr liebe ich ihn.
S: Mich hat der Film geradezu beschwingt aus dem dunklen Kinosaal hinaustaumeln lassen. Wie nur ganz Wenigen gelingt es Lars von Trier ja immer wieder das unfassbar Schreckliche, mit dem echt Schönen zu verbinden. "Melancholia" lässt einen spüren, auch wenn global alles im Chaos zu versinken droht, kann dieses Chaos für dich ganz persönlich gleichzeitig auch wunderschön befreiend und klar sein. Befreiend, weil es dir trotz deiner scheinbaren Abgeklärtheit dann doch noch einen wundervoll romantischen Höhepunkt von Klarheit schenkt, der dich aus allem rausreißt und im Moment des Untergangs dann ganz zufrieden zur Ruhe kommen lässt.
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C: Abschließende Frage - ist für euch der Film als alleinstehendes Kunstwerk goutierbar, ohne den Cannes-Medienzirkus und Nazi-Versprecher des Regisseurs als Subtext mitzuspiegeln?
D: Natürlich könnte man nun hergehen, und gewisse Elemente des Films, wie z.b. die Filmmusik ("Tristan und Isolde" von Wagner), in Verbindung mit manchen Naturaufnahmen dazu benutzen, "Melancholia" gar als Film mit riefenstahl'scher Ästhetik bezeichnen. Das würde sich nach den unglücklichen Sagern von Triers natürlich anbieten. Ich allerdings fand, dass den Film eine "romantische" Grundhaltung durchzog, und in dieser kulturgeschichtlichen Epoche war ja noch lang keine Rede von nazistischer Ideologie. Also ich sehe da keinen Zusammenhang.
C: Pflichte dir bei. Das ist es, was mich am meisten an den infantilen Nazi-Kasperliaden nervt: Dass sie den Film und auch schon frühere Werke des Dänen, die vom Opfer und der Selbstverschwendung handelten, zu Unrecht in ein fahles ideologisches Licht rücken. Dabei sehe ich Lars von Trier in einer anti-ideologischen Tradition von Individualanarchisten. Wenn er etwas propagiert, dann hochgradige Romantik, Lebensüberdruss, Weltverweigerung. "Life is only on Earth", spricht Kirstens Figur gleich dem ganzen Universum das Leben ab, "and not for long".
S: Der Film in all seiner selbstverständlichen Kraft, bleibt von all dem Zirkus natürlich unberührt, wobei das Theater für sich natürlich spannend und zum Teil sicher auch recht ungläubig mitzuverfolgen war.
C: Ich danke euch beiden für dieses schöne Gespräch!
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