Erstellt am: 22. 2. 2014 - 12:27 Uhr
Die Straße, die Sucht und die Zukunft des Videospiels
fm4.ORF.at/games
Trends in der Computerspielbranche, Games-Rezensionen und deren subkulturelle Einordnung
"Als Kind bist du beim Spielen auf der Straße herumgelaufen", sagt John Hanke. "Du hast Räuber und Gendarm gespielt, Cowboy und Indianer, du hast deine eigenen Spiele erfunden. Ich denke, wir werden eine Rückkehr davon erleben". Gemeint ist die Rückkehr des draußen Spielens in eine Welt der elektronischen Unterhaltung - und der Mann, der davon spricht, ist Chef von Niantic Labs, jenem zu Google gehörenden Entwicklerstudio, das Ingress entwickelt hat. Davor hat Hanke mit seiner eigenen Firma Keyhole Google Earth erfunden und war federführend an der Entwicklung von Google Maps beteiligt.
Ingress ist gleichermaßen innovatives Spiel und gigantische Crowdsourcing-Maschine. Über meine ersten Erfahrungen damit habe ich vor kurzem geschrieben. Seitdem hat sich meine Erfahrung mit dem populären Augmented-Reality-Game weiter vertieft.
Hat man in Ingress die höchste Spielstufe erreicht, dann wird auch der Kampf um Resourcen und Territorium intensiver. Stundenlange Aktionen in großen Gruppen, quasi Raids in der physischen Welt, finden täglich statt. Wird das allerdings so intensiv, dass ein Teamkollege in der unübersichtlichen Kurve einer Autobahn-Auffahrt stehen bleibt, aus dem Fahrzeug steigt und die Mitspieler im zweiten Auto von einer Änderung der Strategie in Kenntnis setzt, dann ist die Grenze zum lebensgefährlichen Unfug erreicht. Menschen sterben zwar auch beim Skifahren oder Bergsteigen, im Kontext eines Videospiels ist die Gefahr für Leib und Leben dennoch ungewohnt. Dementsprechend wurde auch der tragische Tod eines Ingress spielenden Teenagers in Rio de Janeiro vor einigen Tagen viel diskutiert. Seid vorsichtig da draußen.
Ich beobachte an mir, dass auch in Ingress die üblichen Suchtmechanismen eines Videogames - bedingt durch die kleinen Dopamin-Ausschüttungen im Gehirn bei Erfolgen und Belohnungen - zur Wirkung kommen. Die Konsequenzen daraus sind andere. Anstatt stundenlanger Sessions auf der Couch laufe ich kilometerweit zu Fuß, markiere wie ein Hund "mein Revier", kaufe ein neues Fahrrad und spekuliere mit dem Gedanken, wieder mit dem Skaten zu beginnen. Ich schiele mehrmals pro Stunde auf die "Ingress Intel"-Karte und chatte in WhatsApp und Hangouts lieber über Portale und Felder als über Alltägliches.
© Enlightened Austria
Ich dachte eigentlich, dass ich nach dem Erreichen von Level acht ein bisschen weniger in der Gegend herumlatschen würde - meine Füße waren tatsächlich schon wund. Ingress wird mit zunehmender Spielstufe aber nicht nur zur immer abenteuerlicheren Angelegenheit, sondern auch zum immer lebendigeren Netzwerk. Der Schlafentzug nach einigen nächtlichen Sessions zeigt mir, dass gerade in einem Geotagging-Game der selbst auferlegte soziale Druck dem eines Computerspiels wie EVE Online, wo es ebenfalls um Territorialkonflikte geht, ähnlich werden kann. "Wir brauchen noch einen achten Spieler für heute Abend", ach ja, und die Spieler beider Fraktionen treffen sich morgen zum gemeinsamen Stammtisch.
Für Entwickler John Hanke sind Geotagging- und Augmented-Reality-Games die Zukunft der Videospiel-Kultur. Deshalb arbeitet Niantic Labs auch an einer Programmierschnittstelle, die den Gestaltern anderer AR-Games zur Verfügung stehen wird. Anstatt des Sci-Fi-Settings von Ingress kann sich John Hanke auch Fantasy- und Zombie-Spiele vorstellen, die auf der Technologie von Ingress basieren. Der Entwickler eines Horrorgames, sagt Hanke, hätte dann zum Beispiel die Möglichkeit, die Bild- und Kartendaten zu Friedhöfen, die von Ingress-Spielern registriert wurden, zu nutzen.
Wearable Computing
Ein anderes Team bei Niantic Labs experimentiert mit der Integration der Ingress-Spielmechanik in Google Glass. John Hanke sieht aber auch andere Wearables, z.B. Smartwatches oder die experimentellen AR-Kontaktlinsen iOptik als wesentliche Tools, die dazu beitragen werden, Augmented Reality und Geotagging als wesentliche Faktoren einer zukünftigen Spielkultur zu etablieren. Schließlich wird Wearable Computing auch die stärkere Vernetzung mobiler Geräten fördern. Smartphones, Tablets, Smartwatches und Datenbrillen werden intensiver miteinander kommunizieren, spielrelevante Daten in der Cloud ablegen und die Komplexität von AR-Games weiter fördern.
© Meta
Die Ansichten des Niantic-Chefs teilt auch Matt Kitchales. Er ist Produktmanager der Augmented-Reality-Brille Meta SpaceGlasses, mit der man durch transparente Screens hindurch virtuelle 3D-Objekte im phyischen Raum sehen und manipulieren kann. Kitchales schwärmt in Interviews gerne vom Gefühl das er beim Bearbeiten holographischer Gegenstände mit den Händen hat - und er träumt von AR-Games, in denen Spieler mit Lichtsäbeln kämpfen oder Zombies durch die Türen ihrer Wohnung wanken sehen.
Wearables werden dazu führen, dass die Grenzen von Augmented Reality und Virtual Reality zunehmend verschwimmen: Denn in den Spielen der Zukunft werden wir sowohl face-to-face mit Menschen auf der Straße spielen, weil sie in unserer Nähe wohnen, als auch in einer virtuellen 3D-Umgebung mit den Avataren von Spielern, die physisch unerreichbar sind.
© Meta
Matt Kitchales sieht durch Wearable Computing und Augmented Reality außerdem die Tendenz zu sogenannten "micro engagements" - Spielvorgängen, die nur wenige Sekunden dauern und in den Alltag integriert sind. "Drop in and out of a game" - für die einen willkommene Bereicherung des Alltags, für andere grauenhafte Ablenkung. Ich jedenfalls habe die nervenaufreibenden Ingress-Notifikationen, die mich warnen, wenn ein gegnerischer Spieler eines meiner Portale angreift, recht schnell deaktiviert. Dennoch werde ich das Spielgeschehen und die Evolution von Ingress weiterverfolgen. Erst diese Woche hat Niantic ein neues Update zur Verfügung gestellt, mit dem das "Hacken" von Portalen um ein zusätzliches Minigame erweitert wird. Die Popularität von Ingress wächst derzeit exponentiell. Niantic Labs hat nicht nur eines der interessantesten Videospiel-Phänomene der Gegenwart bewirkt, sondern betreibt auch ein globales soziales Experiment, dessen Resultate weiterhin für Überraschungen sorgen und für die Arbeit anderer AR-Developer wegweisend sein werden.