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Burstup

Physische Welt, virtuelle Realität. Politik und Kultur.

13. 1. 2014 - 12:06

Ingress

Videospielen auf der Straße: Googles beliebtes Augmented-Reality-Game sorgt für Blasen an den Füßen.

Es ist drei Uhr Früh und ich beschließe, noch einen kleinen Spaziergang zu machen - nur zehn Minuten, um ein paar Gassen weiter etwas Wichtiges zu erledigen. Zwei Stunden später, um fünf Uhr, komme ich nach Hause. Was ist passiert? Eigentlich nur das Übliche, denn dass sich kurze Fußwege spontan um ein vielfaches verlängern, gehört für viele Ingress-Spieler zum wohlbekannten Alltag. Milch und Brot holen dauert ein paar Stunden, der Weg zur U-Bahnstation wird um komplizierte Achterschleifen erweitert, und nächtliche Ausflüge finden auch bei Regen oder Schneesturm statt. In Ingress werden nämlich Resourcen gesammelt und Territorien erobert, indem man den eigenen Körper in der physischen Welt an jene Orte bewegt, wo geheimnisvolle „Portale“ die sogenannte "Exotische Materie" verbreiten. Diese noch recht junge Form des Videospielens heißt Augmented-Reality-Gaming.

© Niantic Labs

Ingress ist nicht der erste Vertreter des Genres, entwickelt sich derzeit aber - nach einjährigem Betatest - zu seinem populärsten. Das im Besitz von Google befindliche Entwicklerstudio Niantic Labs hat ein optisch leicht an die „Matrix“-Filme erinnerndes Cyberpunk-Szenario entworfen, dessen Story rund um Aliens und Gedankenkontrolle zudem in recht aufwändig gedrehten Videos inszeniert wird. Die Spieler sind auf zwei gegenerische Fraktionen verteilt: Eine, die glaubt, dass die „Exotische Materie“ der Aliens positiven Einfluss auf die Entwicklung der Menschen hat und dem Fortschritt dienen wird – und eine, die den Einfluss der Außerirdischen zurückdrängen will. Enlightened und Resistance, Grün versus Blau, Frösche gegen Schlümpfe: Beide Seiten versuchen, soviel Territorium wie möglich zu gutzumachen.

Um ständig über genügend Ressourcen für Angriffe zu verfügen, müssen Spieler mit ihren Smartphones soviele Orte wie möglich besuchen, um die dortigen Portale zu „hacken“. Übernommene Portale können miteinander verbunden werden. Zu einem Dreieck verbundene Portale ergeben ein „Field“. Anfangs freut man sich über ein selbst erstelltes Field von der Größe eines Häuserblocks. Fortgeschrittenere Spieler färben ganze Bezirke und Städte ein. Zu Weltruhm erlangen Teams, denen es gelingt, ein ganzes Land einzunehmen oder sogar ein interkontinentales Field zu erstellen.

© Niantic Labs

An der Vorbereitung dieses legendären Doppelfeldes zwischen Europa und Afrika sowie Italien und Albanien haben Ingress-Spieler drei Monate lang gearbeitet.

Die Welt mit anderen Augen sehen

Die Faszination von Ingress erklärt sich aber nicht nur aus solchen berühmten Großprojekten, sondern aus scheinbar trivialen Angelegenheiten. Die der physischen Welt hinzugefügte, virtuelle Bedeutungsebene verändert die Wahrnehmung. Zum Beispiel steht vor meinem Haustor eine Jesusstatue, an der ich seit Jahren täglich vorbeigehe. Als ich Ingress zum ersten Mal startete und feststellte, dass die Statue ein „Portal“ ist, stand ich tatsächlich auf, zog den Vorhang zurück und sah verstohlen nach unten. Beinahe meinte ich, die grünen Partikel, die der Bildschirm meines Tablets anzeigte, aus dem Kunstwerk auf die Straße quellen zu sehen. Da ich das Jesus-Portal sogar von meinem Schlafzimmer aus „hacken“ kann, ist es nun mein „Hausportal“ und ich verteidige es recht motiviert. Die Spannung, wenn ein nächtlicher Angriff darauf erfolgt, das Gefühl, dass draußen auf der Straße „feindliche“ Agenten um „mein“ Portal schleichen, und die Befriedigung, wenn mehrere Häuserblocks in der Wohngegend die Farbe meines Teams haben – all das macht den Reiz von Ingress aus.

Ingress Screenshot

© Burstup

Kurz vor Mitternacht: Gumpendorf gehört der Enlightened-Fraktion

Schon in der ersten Nacht führte mich der Drang, neue Portale zu entdecken, in eine Gegend, die ich seit meiner frühesten Kindheit kenne - allerdings in deren dunkle Seitengassen, von denen ich viele noch nie besucht hatte. Prompt entdeckte ich dort einen Winkel voll wunderschöner Street Art, interessante Verzierungen auf Gebäuden und die eine oder andere Skulptur. Die Entdeckung immer neuer Details einer Stadt, die ich eigentlich zu kennen glaubte, ist faszinierend. Externe Akkus und Handschuhe mit leitenden Fingerkuppen gehören zur Standardausrüstung vieler Spieler für die stundenlange Ausflüge.
Auf dem Land ist die Dichte von Portalen zwar weniger hoch, doch dort sind viele Spieler mit Fahrrädern, Mopeds und Autos unterwegs. Die Spaziergänge und –fahrten zwischen Statuen, Street-Art-Hotspots und architektonischen Besonderheiten geraten schließlich auch zu Treffen mit verbündeten (oder gegnerischen) Spielern - zum Beispiel für eine sogenannte "Achterfarm", bei der gemeinsam die im Spiel wertvollsten Ressourcen gesammelt werden. In der Praxis spaziert man dabei gemeinsam einige Runden um einen Häuserblock oder durch einen Park, tauscht neben dem Spiel auch Anekdoten aus und freut sich über die gemeinsam im Freien verbrachte Zeit, die trotzdem mit dem Hobby Videospiel verbunden ist.

Und was hat Google davon?

Google erhält das, was Google immer will: Daten. Denn Ingress-Spieler laden Fotos und Informationen über Millionen von Points of Interest hoch. Es sind Daten, die der Konzern in seinen zahlreichen Applikationen verwerten kann - etwa in den Google Maps, in Google Earth und dem zukünftigen Google-Bordcomputer für Autos.
Ingress verschafft Google wohl auch eine noch größere Zahl an Ortungsdaten. So mancher User, der die Lokalisierungsfunktionen seines Smartphones bisher lieber deaktiviert ließ, schaltet sie für Ingress nun ein.
Die virale Verbreitung des Spiels könnte außerdem die Verkäufe von Android-Geräten ankurbeln – eine iOS-Version von Ingress ist erst für Ende des Jahres geplant.

Eine weitere Motivation für Google, sich des Spielgenres Augmented-Reality-Gaming anzunehmen, dürfte wohl der Blick in die Zukunft des Wearable Computing sein: Wenn virtuelle Spielwelten mit der physischen Welt verschmelzen, könnte etwa auch Google Glass als Gaming Device Anwendung finden - oder das, was nach Google Glass kommt, zum Beispiel die Meta Spaceglasses oder die auf der CES vorgestellten AR-Kontaktlinsen.

© vuk1

Auch Buddha ist ein Portal

Aber auch wenn die Visionen von Datenbrillen und –linsen sich nicht bewahrheiten: Mit der zunehmenden Verbreitung leistungsfähiger mobiler Endgeräte, die über immer schnellere Datenverbindungen und immer präzisere Navigationsmethoden verfügen, werden Qualität und Popularität von Augmented-Reality-Games wachsen. Das kann mitunter auch kuriose Folgen haben. Spieler berichteten mir bereits von Anrainern, die aus Angst vor Ingress spielenden „Jugendbanden“ die Polizei gerufen haben und von Mitarbeitern privater Sicherheitsdienste, denen die herumschleichenden „Agenten“ suspekt sind. Ich selbst wurde bereits in meiner zweiten Ingress-Nacht im Schritttempo von einem Polizeiauto verfolgt. Die Chancen für Missverständnisse sind ebenso zahlreich wie die Möglichkeiten, eine höchst unterhaltsame erweiterte Realität zu erleben. Genau darum "muss" ich jetzt trotz schmerzender Füße noch einmal runter zur Wienzeile - vorm Restaurant Colombo Hoppers hat schon wieder jemand mein Portal bei der Buddhastatue zerschossen.