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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

7. 11. 2013 - 08:00

Verzweifelte Sehnsucht nach dem Ganzen

Mit "Der bleiche König" wird das letzte Werk aus dem Nachlass von David Foster Wallace veröffentlicht. Ein Fragment.

"Autor hier. Also der reale Autor, der echte Mensch, der den Bleistift führt, keine abstrakte narrative Instanz. Aber das hier bin jetzt ich als echter Mensch. David Wallace, vierzig Jahre alt, Sozialversicherungsnummer 975042012. Dies alles ist wahr. Dieses Buch ist wirklich wahr."
(D.F.W.: Vorwort zu "Der bleiche König", §9, S. 79)

David Foster Wallace auf FM4

So wirklich mag man David Foster Wallace nicht glauben, wenn er im Vorwort seines letzten Romans die Worte an seine Leser richtet. Im Vorwort, auf Seite 79, § 9. Ein Prolog mitten im Text, der sich bereits versucht wie ein Stück Butter in der heißen Pfanne zu verbreiten, aber unaufhörlich wegschmilzt. Ein Teufelskreis, aber Foster Wallace brach zu Lebzeiten immer gern mit erzählerischen Konventionen.

Gleichzeitig ist dies allerdings auch auf Zutun seines Herausgebers Michael Pietsch geschehen, der die lose miteinander verbundenen Textfragmente von "Der bleiche König" sortieren und die unendlich und erbarmungslosen Überarbeitungen ordnen und verstehen musste. Ob das Vorwort wirklich erst im Text geplant war, verraten nur die Notizen. Diese und all die anderen Randbemerkungen finden sich auch in "Der bleiche König", es ist also eine editierte Fassung eines Autors, der auch mich persönlich bei FM4 schon einige Jahre begleitet. Fast vor genau vier Jahren begann meine persönliche Nachlassverwaltung von Foster Wallace, vom viel zitierten und diskutierten Magnus Opus zu den Kurzgeschichten über gebrochene Herzen. Einen Toten zu begleiten ist eine Verantwortung.

Der bleiche König Banner

Kiepenheuer & Witsch

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David Foster Wallace: "Der bleiche König" Cover

Kiepenheuer & Witsch

David Foster Wallace: "Der bleiche König" ist 2013 in deutscher Übersetzung von Ulrich Blumenbach bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

"Der bleiche König" ist nun also sein letzter Roman, wie so häufig ohne lineare Handlung. Das Buch hat keine Hauptfigur im engeren Sinn, sondern ist von einer Art Gruppenkonstellation geprägt, deren Mitglieder die amerikanische Mittelschicht der 70er Jahre abbilden. Da ist die White Trash-Schlampe, die als Kind mit ihrer Mutter von Trailer Park zu Trailer Park wandern musste und nun ihren Sadismus in der Steuerbehörde an ihren "Kunden" auslassen kann. Da ist der Super-Streber, der von seinen Mitschülern verprügelt und gegeißelt wird, ihnen jedoch am nächsten Tag einen liebevollen Entschuldigungsbrief vorlegt, in dem er sein Verhalten bedauert, falls dieses ihnen zu nahe getreten sein sollte. Er möge in diesem Zusammenhang auch einen Beratungstermin für die Gruppe vorschlagen, wo man sich auf neutralem Boden mit geschultem Fachpersonal austauschen und eventuell den Boden fruchtbar für eine Freundschaft vorbereiten könne. Am nächsten Tag brennt nicht nur der Spind des Jungen, sondern auch die sechs rechts und links.

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Und da ist der Autor, dieser David Wallace, vierzig Jahre, Ex-Steuerbeamter, nun kreativer Schreiber und Universitätsmitarbeiter, der behauptet, dieses Buch sei wahr. Der hier eigentlich nur Notizen und Tagebucheinträge von tatsächlich Erlebtem wiedergibt und lediglich die Namen verändert hat. Denn dort, wo alle Geschichten und unzähligen Charaktere zusammengeführt werden, ist die US-amerikanische Steuerbehörde. Ein Ort voller Bürokratie und oft allzu menschlicher Szenen. Dort wo auf einmal zwei Charaktere über Masturbation sprechen und was diese beflügeln würde. Als einer von ihnen nach langem Zögern, diese doch heikle Frage beantworten zu müssen, "Titten" ausstößt, bleibt dem anderen nur die Frage nach der Abstraktion: "Titten? In völliger Isolation? Nur abstrakte Titten? Du meinst, die schweben da einfach so, zwei Titten, im leeren Raum? Oder schmiegen sie sich in deine Hände? Sind es immer die selben Titten?". Oder auch der Abdruck eines Zeitungsartikels über einen IRS-Mitarbeiter, der bereits vier Tage tot an seinem Schreibtisch saß, bevor man ihn als Leiche wahrnahm. Offizieller Grund: Er arbeitete sehr konzentriert und gewissenhaft, von daher fand es niemand ungewöhnlich, dass er die ganze Zeit in derselben Position dasaß und kein Wort sagte.

Manchmal vergisst man, wie herzhaft man bei Foster Wallace lachen kann.

David Foster Wallace

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Social Reading zu "Der bleiche König"
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David Foster Wallace hat "Der bleiche König" nicht abschließen können. Das heißt aber nicht, dass er den geschriebenen Teilen im Laufe seiner erbarmungslosen Überarbeitungen, die ebenfalls im Buch abgedruckt sind, so etwas wie Kohärenz verliehen hätte. Die Romane von Foster Wallace waren immer schon Fragment. Sie versuchten nie abgeschlossen zu sein oder gar Realität abzubilden. Wenn überhaupt sind die Texte von Foster Wallace der ideale Typus der romantischen Universalpoesie: Ein Text, der sich in ständiger Bewegung weiterdreht, alle anderen Textgattungen in sich vereint, vielleicht bigger than life sein möchte.

Weitere Leseempfehlungen:

Sprach- und detailverliebt, irrenden Schmerz beschreibend, ich mag ihn nicht loslassen. Diese Rezension ist auch das Schreiben gegen den Abschied. Bei jedem Wort von D.F.W. merke ich, welches Ausnahmetalent uns nie wieder beschenken wird.

In diesem Sinne bleibt auch dieses Leben ein Fragment. Aber wie alles bei Foster Wallace, eines mit der verzweifelten Sehnsucht nach dem Ganzen.