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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

29. 10. 2009 - 17:10

Das Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche

David Foster Wallace schreibt sich in "Unendlicher Spaß" um Kopf und Kragen und schildert bestürzend das Ende der Menschheit. Der Autor hat vor seinem Selbstmord letztes Jahr ein erschütterndes Abbild unserer Gesellschaft abgeliefert.

Einen durchaus diskutablen Ansatz bietet das Projekt
"Improved Reading". Dabei wird davon ausgegangen, dass durch effizientere Lesetechniken eine schnellere Selektion von Informationen möglich ist. Das ist recht interessant, denn auch beim Lesen geht man redundant vor. Man verliert sich auf einer Buchseite recht rasch, springt im Text vor und zurück oder schweift mit den Gedanken ab. Eigentlich eine gute Idee für E-Mails, Gebrauchsinformationen, Zeitungen und Verkehrschildern. Aber funktioniert das auch bei Literatur?

Das erinnert mich an die Diskussion vor zwei Jahren in Stern TV, als die Schnellleserin Edeltraud Steinbrink-Wessling (300 Seiten in einer Stunde) dem Literaturkritiker Hellmuth Karasek gegenübergesetzt wurde. So sehr man Steinbrink-Wessling auch beneidete, so sehr musste man Karasek recht geben, der anmerkte, dass gerade das langsame und genussvolle Lesen der Sinn von Literatur sei.

An dieses Argument musste ich zurückdenken, als ich "Unendlicher Spaß" las. Ein Buch über den Tod des Individuums, der Abhängigkeit und dem Ende unserer Zivilisation.

Ein Buch, das schwer im Magen liegt

Cover Unendlicher Spaß

Kiepenheuer & Witsch

"Unendlicher Spaß" (engl.: "Infinite Jest", 1996) von David Foster Wallace ist ein schweres Buch. 1410 Seiten plus 137 Seiten Fußapparat. Ich zweifle an, dass Steinbrink-Wessling dieses Buch in fünf Stunden durchgelesen hätte. Denn der ganze Roman kämpft gegen solche Schnelllese-Orgien an. Er liegt einem schwer im Magen.

Es sind nicht nur der schiere Umfang oder die irrwitzig langen, verschachtelten und mit Fremd- und Fachwörtern angehäuften Sätze von Foster Wallace, für die der deutsche Übersetzer Ulrich Blumenbach sechs Jahre benötigte, um sie (kongenial) zu dekodieren. Es ist auch der tieftraurige Inhalt, der durch unterschiedliche Perspektiven und Tonlagen selten greifbar wird und den Leser verwirrt und alleine zurücklässt. Das ist kein Roman, es ist eine Ansammlung von Kleinodien, ein vollgestopftes Kabinett, eine Zugfahrt ohne Ziel. Der Titel "Unendlicher Spaß" ist eine glatte Verarsche. Spaß hat hier niemand.

Es war einmal...

Der Roman spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, hauptsächlich in den USA, die sich mit Kanada und Mexiko zur "Organisation of North American Nations“ (O.N.A.N.) zusammengeschlossen haben. Die Unterhaltungsindustrie dominiert alles: Es gibt kein staatliches Fernsehen mehr. Vielmehr wird nun jeder Konsument mit einem individuellen und auf sich zugeschnittenen Programm verblödet. Die Kommerzialisierung geht sogar soweit, dass statt Jahreszahlen nur noch Produktnamen verwendet werden. Wir befinden uns zumeist zwischen dem "Jahr des Whoppers" und dem "Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche".

Der Leser begegnet über dreißig verschiedenen Charakteren. Kaum empfindet er so etwas wie Empathie für sie, lässt sie Foster Wallace auch schon wieder kaltschnäuzig fallen. Einige Personen bleiben in Erinnerung, da Foster Wallace ihnen mehr Raum gibt. Eine davon ist der 17-jährige Tennis-Star Harold James Incandenza, kurz Hal genannt. Ja, wie der Computer in Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum". Ein Genie am Rande des Wahnsinns. Maßgeblich Schuld daran hat sein Vater. Ein Regisseur, bei dessen Film "Unendlicher Spaß" die Gehirne der Zuschauer regelmäßig zu Brei werden. Eine weitere Figur ist Don Gately, ein Abhängiger auf Entzug. Statt von Tabletten und Alkohol ist er nun von Gott abhängig. Aber seine Form des Betens ist lediglich das Starren an die Zimmerdecke. Eine Ersatzbefriedigung, mehr nicht.

Alle Figuren haben etwas gemeinsam: Sie sind abhängig. Von Drogen, vom Erfolg, von Leistung, vom Alkohol. In Ennet House, einer Entziehungsklinik, werden viele von ihnen unter Kontrolle gehalten, da sie sich selbst nicht mehr unter Kontrolle haben. Alle Charaktere verspüren eine erschreckende Leere, die in jedem Moment zu spüren ist.

Der Tod des Subjekts

Foster Wallace zeigt seine Figuren immer nur kurz, aber mit viel Gefühl für Details. Er ist detailverliebt, aber auch objektiv, regelrecht kalt. Dieser Roman zeigt auf, wie das Subjekt stirbt. Es gibt in dieser Noch-Fiktion von Foster Wallace keine Menschen mehr, von denen man länger erzählen oder denen man länger folgen müsste. Keine, die es wert wären, dass man ihnen folgt.

David Foster Wallace

APA

David Foster Wallace (1962 - 2008)

Wallace Foster hat sich vor einem Jahr, im Alter von 46 Jahren, das Leben genommen. Er war ein großes Talent. Vergleiche mit James Joyce und postmodernen Klassikern von Thomas Pynchon wurden gezogen. In Büchern wie "The Broom of the System" (1987) oder "Girl with Curious Hair" (1989) beschrieb Foster Wallace bereits eindrucksvoll die Bedeutungslosigkeit unserer Existenz, wenn wir sie vollständig der Unterhaltungsindustrie übergeben würden. In "Infinite Jest" hängt sein Selbstmord über jedem Wort wie ein Damoklesschwert. Was für ein Leben muss so ein Mensch geführt haben, der mit so einer feinfühligen Wahrnehmungsgabe gesegnet war? Der Missgunst, Hass, aber auch Leere viel stärker gespürt haben muss? Er war nicht zu beneiden, solche Eindrücke rauben einem die Luft. Foster Wallace schreibt sich in diesem Roman um Kopf und Kragen, er hört einfach nicht auf.

David Foster Wallace - "Unendlicher Spaß" ist bei Kiepenheuer & Witsch, 2009 erschienen.

Dieser Text verlangt mehrmaliges Lesen. "Unendlicher Spaß" ist ein Roman, der sich auch weigert schnell gelesen zu werden. Dies beweist das Projekt "100 Tage Unendlicher Spaß", bei dem Leser noch bis zum 1.12.2009 ihre Leseerfahrungen austauschen können. Falls man sich dem Ende der eigenen Existenz wirklich mehrmals stellen möchte.