Erstellt am: 28. 10. 2013 - 12:26 Uhr
Roadmovie, Science-Fiction und Doku-Marathon
Viennale
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Keine Ahnung, wieso ich es mir nicht und nicht merken kann, dass man immer fünf bis zehn Minuten vor Filmbeginn da sein sollte. Und „da“ heißt nicht in der Nähe, sondern am Schalter drankommen. Und nein, wenn man bei der U3-Station Stubentor aussteigt, ist man nicht „in einer Minute“ im Gartenbau.
„Nebraska“ als bitterkomisches Roadmovie
„Nebraska“ am Freitag Abend fand mich daher in gut aufgewärmtem Zustand jenseits des Ruhepuls. Regisseur Alexander Payne führt hier weder in die kalifornischen Weinberge wie in „Sideways“ noch zu der filmisch bis jetzt noch recht unverbrauchten, pittoresken Küste Hawaiis wie in „The Descendants“, sondern in die in Schwarzweiß getauchte Kahlheit des Winters im Mittelwesten. Dort zeigen die Alten, was sie können. Die Mutter bellt den Vater an und lüftet am gottverlassenen Friedhof ihren Rock, um einen verstorbenen Verehrer ihre Unterwäsche zu zeigen.
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Der Vater ist ein knurriger Eigenbrötler mit Bierdurst on the run, wenn er noch rennen und nicht nur humpeln könnte. Der brave Sohn hingegen sucht, in der Ahnung eines nahenden Abschieds für immer, noch einmal die Nähe zu seinem Vater. Daraus entspinnt sich ein gemächliches, bitterkomisches Road Movie mit einnehmend schroffen Dialogen, in dem Amerika nicht viel mehr ist als ein paar Bretterbuden zwischen in der Landschaft herumstehenden Kühen, wo desillusionierte Modernisierungsverlierer auf zerschlissenen Sofas in den Fernseher starren. Die Welt ist ein schäbiger, geldgieriger Platz voller Egoisten, die keine Sprache für einander finden. Gerade deshalb muss hier ein trotziger, typisch us-amerikanischer Humanismus die Stellung halten.
Samstag Vormittag verplaudere ich mich zuhause mit Gästen aus Hamburg, die gerade bei uns wohnen U. erzählt mir von einem reichen Sammler, der nur Kunst sammelt, die er nicht versteht.
Dann ist es schon wieder fast zu spät, und das Joggingproramm geht wieder los, diesmal führt die Strecke Richtung Kino am Schwarzenbergplatz. „Wenn es Abend wird über Bukarest oder Metabolismus“ verrät schon im Titel: Blockbuster wird das keiner. Corneliu Porimboiu stellt hier mit bescheidenen Mitteln einen Film über das Filmemachen vor. Ein Regisseur probt mit seiner Hauptdarstellerin eine Szene, in deren Verlauf die Schauspielerin nackt zu sehen sein soll. Aus dieser Grundkonstellation gewinnt Porimboiu fundamentale Einsichten über das Wesen des Kinos überhaupt, das es, wie der porträtierte Regisseur in der Eingangsszene vermutet, in 50 Jahren so nicht mehr geben wird und nur ein bildgebendes Verfahren unter anderen sein wird.
Der selbstreflexive Film erzählt von den Unterschieden zwischen Script und Spiel, Repräsentation und Präsenten und nicht zuletzt von einem, Dauerbrenner, dem männlichem Blick auf den weiblichen Körper und den Widerstand dagegen. All das hört sich supertrocken an, entfaltet sich aber mit beiläufiger Rafinesse. Wenn Regisseur und Hauptdarstellerin beim chinesischen Essen sitzen, beginnen sie über die Einfachheit der Chopsticks und die Elaboriertheit der chinesischen Küche zu sprechen. Später werden sie auch noch mit den verfeinerten Werkzeugen Messer und Gabel in einem im Vergleich grobschlächtigen europäischen Gericht stochern. Da Film ja laut Peter Kubelka nichts anderes als Kochen mit anderen Mitteln ist, fragen wir uns: Ist das nun ein „chinesischer“ oder ein „europäischer“ Film?
„Upstream Colour“ ist ein Monster von einem Film
Später am Nachmittag ist es dann endlich so weit. Ich versäume meinen ersten Film, na endlich. Dafür aber werde ich am Abend mit einer Entdeckung belohnt, die zunächst ganz erratisch daherkommt: Würmer, die sich unter der Haut dahinschlängeln, und Schweine, die auf undurchsichtige Weise mit Menschen in sensorischer Verbindung stehen. „Upstream Colour“ von dem gefeierten US-Indie-Auteur Slane Corruth ist ein Monster von einem Film, der sich nix scheißt und Science Fiction im besten Sinn ist.
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Er erfindet eine neue Welt, in der Menschen die Gedanken des Liebespartners lesen können und generell das Motiv des Virus, der Ansteckung zentral ist. Dieses speist einen Begriff von Natur, der zwar den wertkonservativen Thoreau-Klassiker „Walden“ als Referenz ins Spiel bringt, aber von einem ständigen Anders-Werden und der Überwindung der Leitdifferenz Natur-Kultur geprägt ist. „Upstream Colour“ ist ein so noch nicht gesehenes Monument von teils überreiztem, teils Funken schlagendem Eigensinn, dem in der Nachtvorstellung Corruths angeblich um nur 7000 Dollar produzierter Erstling „The Primer“ folgt.
„The Primer“ beginnt in der Garage, in der zwei wie künftige Wall Street-Banker in weißen Hemden mit Krawatte gekleideten Wissenschaftsnerds eine „Box“ konstruieren, die zufällig Zeitreisen ermöglicht. Doch das Hineinklettern in die Box erzeugt nicht nur Probleme mit Zeitschleifen sondern auch mit den eigenen Klonen. Das Ganze ist billig gemacht und himmelstürmerisch gedacht, auch wenn sich mir einiges erst im nachträglichen Erklärenlassen meiner geduldigen, liebsten Begleiterin und im Nachlesen erschlossen hat. Jedenfalls könnte ich beide Filme dem Sammler empfehlen, der alles hortet, was er nicht versteht.
„Der Letzte der Ungerechten“
Am Sonntag war dann alles wieder viel konventioneller, aber dafür umso dringlicher. Claude Lanzmann stellte persönlich seine neue, fast vierstündige Doku „Der Letzte der Ungerechten“ („Le Dernier des injustes“) vor. Sie steht im Zeichen des Wiener Ex-Rabbiners Benjamin Murmelstein, den Lanzmann bereits 1975 in Rom während seiner Recherchen zu seiner epischen Doku „Shoa“ interviewt hatte. Murmelstein fungierte als sogenannter Judenältester in Theresienstadt als Verbindungsglied zu den NS-Schergen und wurde unmittelbar nach dem Krieg der Kollaboration mit den Nazis bezichtigt und 1989 nach seinem Tod ohne die Ehrung durch das jüdische Totengebet in Rom beigesetzt. Lanzmann, heute ein 87-jähriger Mann, präparierte aus dem elftstündigen Interviewrohmaterial den Charakter einer Person heraus, die fast jeden Satz mit einem ungeduldigen „Schaun Sie“ beginnt, um dann die ungeheuerlichen moralischen Überforderungen seines Lebens zu schildern.
Murmelstein ist ein erstaunlicher Mann, gebildet, witzig und unsentimental. Ungeschminkt spricht er von einer „Abenteuerlust“ während seiner Arbeit, er vergleicht sich mit Sancho Panza, der die zynischen Propagandalügen der Nazis mitträgt, um das als Vorzeige-Ghetto geplante Theresienstadt vor seiner Umwandlung in ein „reguläres“ Vernichtungslager zu bewahren. Will er damit auch seine eigene Haut retten? Ja, auch, gibt Murmelstein ohne Zögern zu: „Im Ghetto waren alle Märtyrer. Aber nicht alle Märtyrer waren Heilige.“
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Solche Sätze rühren an der quälenden, oft mit Schuldbezichtigung einhergehenden Selbstbefragung von Shoa-Überlebenden, die nach den Gründen für ihr eigenes Überleben fahnden und eine Verpflichtung gegenüber den Toten verspüren. Der Film zeigt aber in geduldiger Nuanciertheit, dass es in solchen Situationen keinen Richter geben kann. Wer wollte es einem Mann wie Murmelstein, der durch sein kluges Handeln vielen Juden das Leben gerettet hat, vorschreiben, wie er mit der Pistole im Nacken zu agieren hatte? Wer maßt sich an, über die realpolitischen Schachzüge zwischen Befehlsausführung und Subversion in einer Lage zu urteilen, in der einer der Vorgänger Murmelsteins dazu gezwungen wurde, über Nacht Henker aufzutreiben, weil er sonst selbst mit dem Galgen zu rechnen hatte?
„Der Letzte der Ungerechten“ ist ein aufwühlender, großer und wichtiger Film. Da tut es auch keinen Abbruch, dass sich Lanzmann im Gespräch danach als nicht diskussionswillig zeigt und seine entschiedenen Haltungen („Hannah Arendt ist ignorant und ihre Theorie der Banalität des Bösen ist selbst banal“) ohne Widerrede durchboxen will. Der Film zeigt, auch wenn es das Kino vielleicht wirklich in 50 Jahren nicht mehr geben wird, wozu dieses Medium immer noch imstande ist.
Es schafft nicht nur Werke, die wir nicht verstehen. Manchmal hilft es auch dabei, eine Wirklichkeit, die wir nicht verstehen, ein wenig besser zu verstehen.