Erstellt am: 8. 9. 2013 - 13:05 Uhr
Die Löwen sind los
Filmfestspiele von Venedig
- Vom Space Cowboy bis zur Art-Porn-Queen: Die 70. Filmfestspiele von Venedig sind eröffnet
- Christoph Waltz im Cybersex-Rausch: SciFi-Altherrenwitz, ein Südstaaten-Drama, Serienkiller und Umweltaktivisten in aktuellen Filmen bei der Biennale Venedig.
- Die Löwen sind los: Erstmals wurde eine Dokumentation mit den Goldenen Löwen ausgezeichnet.
In "Sacro GRA", dem Sieger-Film dieses Jahres, fängt der Italiener Gianfrano Rosi das Treiben rund um die gigantische römische Ringautobahn ein. Bizarre Randfiguren besiedeln Rosis poetischen humaner Entwurf von urbaner Periferie. G`standene Prostituierte jenseits des Pensionsalters unterhalten sich über ihre Lieblingskäse. Ein litauischer Prinzen-Nachkomme vermietet seinen inmitten der Satellitenstadt eingequetschten Palazzo an Fotoroman-Produzenten oder offeriert Bed & Breakfast in eben diesem. Rosi blickt auf schräge Vögel. Noch ein Adeliger philosophiert in einem klaustrophobisch engen Hochhaus-Appartment über die Innenausstattung vorbei ziehender Airlines. Während ein Botaniker den Insekten-Sound in Palmen aufzeichnet.
La Biennale di Venezia
Die Jury unter dem Vorsitz von Bernardo Bertolucci hat sich - angeblich einstimmig - hier mit Gianfranco Rosi zwar für einen brillanten Dokumentaristen ("El Sicario – Room 164") als Hauptpreisträger entschieden, jedoch auch für eine eher konventionelle Formensprache.
La Biennale di Venezia
Großer Preis der Jury
Den Großen Preis der Jury konnte der in Tawain arbeitende Tsai Ming-liang für sich verbuchen. Sein Spielfilm "Jiaoyou" ("Stray Dogs") illustriert den Überlebenskampf eines Vaters und seiner zwei Kinder im modernen Taipeh. Während der Vater als lebendes Billboard ein mickriges Einkommen erwirtschaftet, ziehen sein Sohn und seine Tochter durch die Shopping Malls auf der Jagd nach Gratis-Essproben. Tsai Ming-Liangs konsequente Alltagsstudie zählte im Vorfeld als Mitfavorit für den Goldenen Löwen.
Homegreen Films and Jba Production
Beste Regie und ein Löwe in Silber
Die beste Regie und somit der Silberne Löwe ging an den Griechen Alexandros Avranas und seine familiäre Gewaltstudie "Miss Violence". Im Internationalen Festivalzirkus erlebt stilistisch und erzählerisch radikales Kino aus Griechenland seit einigen Jahren mächtigen Aufwind und Aufsehen. An die originelle Qualität seiner Regie-Landskollegen wie Athina Rachel Tsangari ("Attenberg") und Giorgos Lanthimos ("Dogtooth") reicht Avranas oberflächlich mit Schock operierender Kommentar auf den Selbstmord einer 11jährigen nicht heran.
La Biennale di Venezia
Themis Panou als tyrannischer Vater in "Miss Violence" wurde zum besten Hauptdarsteller ernannt. Den Coppa Volpi für die beste weibliche Hauptrolle hat Elena Cotta ("Via Castellana Bandiera") erhalten.
La Biennale di Venezia
Keiner der starken amerikanischen Wettbewerbsbeiträge ("Child of god" von James Franco, "Night Moves" von Kelly Reichardt oder "Joe" von David Gordon Green) ist unter den Hauptpreisträgern. Mit Tye Sheridan ("Joe") fand aber der Marcello Mastroianni Award für den besten Nachwuchsdarsteller einen würdigen Empfänger.
Spezialpreis der Jury
La Biennale di Venezia
Mit dem Konzeptfilm "Die Frau des Polizisten" schlägt der deutsche Filmemacher Philip Gröning beinahe drei Stunden lang in 59 (!) Kurzkapiteln das emotionales Glück und körperlichen Missbrauch in einer Kleinfamilie auf. Sein Wettbewerbsbeitrag war der Jury der Spezialpreis der Jury wert. Gröning spiegelt vielleicht zu vordergründig und ambivalent romantisierend Gesellschaftskritik anhand von Kleinbürgerdasein hinter verschlossenen Wohnungstüren.
Keine Preise für Leidenschaft mit Stil
Zusammengefasst wirken die Preisentscheidungen der Großen Jury mehr nach Familienagenden sortiert, die nach außen funktionieren (müssen) und von innen betrachtet ökonomische und körperlich brisant Gewaltakte stemmen müssen. Visuell und narrativ ausgeklügeltes Kino wie der bohrenden Thriller "Tom à la Ferme" des jungen kanadischen Allround-Talents Xavier Dolan oder die betörende Alienstudie "Under the Skin" des britischen Pop-Ästheten Jonathan Glazer konnte die Jury unter Bernardo Bertolucci nicht genug begeistern, um diese eigenwilligen und kraftvollen Regie-Statements auszuzeichnen.
Alle Preisträger der 70. Filmfestspiele von Venedig finden sich auch auf labiennale.org.