Erstellt am: 3. 9. 2013 - 16:09 Uhr
Christoph Waltz im Cybersex-Rausch
Filmfestspiele von Venedig
- Vom Space Cowboy bis zur Art-Porn-Queen: Die 70. Filmfestspiele von Venedig sind eröffnet
- Christoph Waltz im Cybersex-Rausch: SciFi-Altherrenwitz, ein Südstaaten-Drama, Serienkiller und Umweltaktivisten in aktuellen Filmen bei der Biennale Venedig.
- Die Löwen sind los: Erstmals wurde eine Dokumentation mit den Goldenen Löwen ausgezeichnet.
Henry Fonda liegt am Strand und lächelt. Sieben Frauenhände cremen seinen Körper ein. Da winkt der Duce neben dem Goldenen Löwen, und auch Joseph Goebbels gondelt durchs Bild.
Die Vergangenheit ist auf der 70. Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica omnipräsent. Zumindest in Kinosälen. Zur Jubiläumsausgabe des ältesten Filmfestivals der Welt sind im Wettbewerb den aktuellen Endzeitvisionen gegenwärtiger Regisseure und ihren durchgehend krisengebeutelten Protagonisten historische Wochenschauen vorangestellt. Warum man dem Publikum nicht laufend die 70 Einminüter präsentiert, die bei den Gegenwarts-Regiegrößen eigens in Auftrag gegeben wurden und diese stattdessen schwer auffindbar auf der Website verräumt, bleibt rätselhaft. Rätsel geben zur Halbzeit im Rennen um den Goldenen Löwen auch so manche Wettbewerbsbeiträge auf.
Gestern Abend feierte "The Zero Theorem", das neue Werk von Terry Gilliam (Ex-Monthy Python und "Brazil"-Regisseur) Galapremiere - ohne seinen Hauptdarsteller. Im Film haust ein glatzköpfiger Christoph Waltz - meist halbnackt und mit eher zurückhaltender Performancekraft - als soziophobes Mathematikgenie Qohen Leth in einem altbackenen, futuristischen Set. Die Orwell'sche Welt und auch Leths verkabeltes Kirchenschiff und Wohnstätte werden von Entertainment-Konzernen und chamäleonhaften Managern regiert. Einsam (ver)zweifelt er an der menschlichen Existenz, bis "Big Brother" Matt Damon ihm eine Femme fatale im Krankenschwestern-Outfit (Mélanie Thierry) schickt. Der altmodisch anmutende Cybersex soll den Unruhestifter Leth ablenken. Mit ihrem überdreht kindischen Altherrenwitz steht die karnevalesk überladene Science-Fiction-Parabel "The Zero Theorem" höchstens für die (Kino-)Zukunft von gestern.
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Men in the woods
Der Wald hat in der Wettbewerbsschiene schon auffallend vielen Außenseitern Schutz gewährt. Versteckt in der Natur verteidigen die dort lebenden Menschen als "Rand der Gesellschaft" ihre Existenz. So ist Nicolas Cage - endlich wieder - beeindruckend zu seinen Independent-Wurzeln zurückgekehrt. Charismatisch und lässig verkörpert er in "Joe" das Blue-Collar-Milieu in dem brutalen Südstaaten-Drama. Joe ist Vorarbeiter eines Waldrodungstrupps, er ist Rolemodel, Troublemaker und Einzelgänger in einer kleinen Gemeinde, der Wutanfälle heftig an- und Hirschhaut kräftig abzieht.
Das einstige Indie-Regiewunderkind David Gordon Green hat zuletzt in "Prince Avalanche" überschüssige Testosteron-Konflikte im Wald verhandelt. Mit "Joe" liefert Green eine schwindelerregend harte Milieustudie im poetischen Gegenlicht des Herbstes. Green beschreibt das untere Ende in der sozialen Skala stets traumwandlerisch und differenziert, mit Bildern, die sich nicht so schnell aus dem Kopf verbannen lassen. Etwa arbeitslose Schwerstalkoholiker, die nach einem Mord breakdancen. Der schlagende Vater, die unter Drogen apathisch dahindämmernde Mutter und der arbeitsunwillige Teenager Gary (großartig: Tye Sheridan), der in Joe den Ersatzvater findet - sie alle stehen im trostlosen Kreislauf männlicher Gewalt.
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Neben "Joe" ist auch "Child of God" von James Franco eine echte Freude unter den gegenwärtigen US-Literaturverfilmungen. Regisseur Franco hat auf der Pressekonferenz gestanden, er hätte sieben Jahre gebraucht, um seine dunkle Tour de Force über den Höllenmenschen und Serienkiller Lester Ballard zu realisieren. Das hätte vor allem an Cormac McCarthy gelegen, der erst davon überzeugt werden musste, die Rechte für eine Leinwandadaption des Buchs freizugeben. Herausgekommen ist die beste Inszenierung von Hipster James Franco. Scott Haze hetzt als Psychowrack Lester Ballard animalisch durch den Wald. Seine eindringliche Quasi-Soloperformance geht nie in peinlichen Method-Acting-Outrierungen auf, obwohl er sich in Vorbereitung auf seine Rolle drei Monate aus der Zivilisation gestohlen hat.
Die Dorf-Community hat diesen Lester Ballard ausgespuckt. Die erzwungene Isolation treibt Ballard zur Nekrophilie mit Teenager-Körpern. Lester schleppt unter absurd hoher Anstrengung tote Mädchen kerzengerade Leitern hoch oder redet sich in Begleitung meterlanger Stofftiere aus der Einsamkeit in den mörderischen Wahnsinn. James Franco fühlt sich dem Realismus wie den surrealen Momenten der Realität verpflichtet.
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The Kids are not alright: Bio-Terror, Griechenland im Keller
Kelly Reichardt hat in ihrem klugen Konzept-Thriller "Night Moves" akribisch die Vorbereitungen einer Gruppe von Umweltaktivisten beobachtet, die einen Damm sprengen. Ihr Terror für die Natur wächst sich zu paranoiden individuellen Katastrophen aus, in denen ein wortkarger Jesse Eisenberg ("Social Network") und eine überengagierte Dakota Fanning ("Twilight") nicht immer die Nerven bewahren.
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Meine eigenen Nerven habe ich dann angesichts des griechischen Beitrags "Miss Violence" weggehaut. Was hier zunächst unangenehm mit dem Selbstmord einer Elfjährigen in Gang gesetzt wird, setzt sich ganz kurz vielversprechend in einem mysteriösen Andeutungskino von inzestuösem Missbrauch fort. Der Vater und Großvater unterhält mit seinen vier Töchtern einen familiären Pornoring, der dann pseudo-radikal mit langen, sehr deutlichen Vergewaltigungsszenen illustriert wird. Ein billiger Kinoschock in the face, der sich allzu schlau verkaufen möchte.
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Das gesamte Programm der Filmfestspiele von Venedig gibt es hier: 70. Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica.
Tom à la ferme
Schauplatz des bisher leidenschaftlichsten Kinoentwurfs und meines persönlichen Favoriten ist ein abgelegener Bauernhof mit schwulen Jungbauern. Mit seinen 24 Jahren hat der Kanadier Xavier Dolan mit seinem vierten Spielfilm "Tom à la ferme" einen fulminanten, veritablen Camp-Thriller abgeliefert. Mit hypnotischen Bildern, verstörend abstrusen Erzählsträngen und schwarzem Humor spielt Dolan mit körperlichem Missbrauch und rückständigen Beziehungsmustern in der Provinz. Eine queere Amour Fou macht melodramatisch Zwischenstation beim Tangotanzen im Heuschuppen und endet mit einem Abgesang gegen die konservative Landeier-Mentalität mit Rufus Wrainrights betörender Amerika-Reflexion "Going To A Town".
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Schwarzhaarig, mit verschlissenem engem Jeans-Outfit und Fake-Fur-Jacke cruist die Außerirdische Laura (Scarlett Johansson) mit ihrem Lieferwagen in einem semi-dokumentarischen Setting durch die Arbeiterstadt. Aus der Fahrerkabine hat Regisseur Jonathan Glazer mit versteckten Kameras gefilmt, wenn Johansson unvermutet Passanten (im Film ihre Opfer) aus dem Auto anspricht, ob sie mit ihr nach Hause kommen wollen. Einer vollkommen neuen als der üblichen, kontrollierten Drehsituation in Hollywood wäre sie mit "Under the Skin" ausgesetzt gewesen, gab Scarlett Johansson auf der Pressekonferenz zu.
"It was absolutely terrifying. I was afraid of how people react in general. It was a strange experience, just knowing that something is gonna happen. It was part of the experience of working on this film. The character is a being that is part of an entity. She is only turned on, so to speak, when she needs to be, as opposed to having this strange alien movements that you see in a Tim Burton movie or something. We didn’t want her to be like an alien with an odd look and behaviour."
Famose cinematografische Alienation und erotisierende Gänsehaut ist bei Glazers "Under the skin" garantiert. Ich durfte den Film schon in einem Pressescreening mit offenem Mund anstarren. Er eröffnet in einem Setting auf Schottlands Kleinstadtstraßen einen hyperartifiziellen schwarzen Traumraum. Dort strippt und verführt seine
Femme fatale Scarlett Johansson junge schottische Männer aus der Working Class. Mit erigiertem Penis durchwandern diese in den Mordszenen einen experimentell konstruierten Filmraum ganz in Schwarz, wo die Opfer von einer Flüssigkeit in den Tod gezogen werden, während ein somnambul schöner Score den Rest für alle Sinne erledigt. Heute Abend (3.9.) wird der britische Wettbewerbsbeitrag des ehemaligen hippen Videoclip- und "Sexy Beast"-Machers Glazer in der Gala-Premiere bei den aktuellen Filmfestspielen von Venedig für einen glamourösen Auftritt von Scarlett Johansson sorgen.