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Petra Erdmann

Im Kino und auf Filmfestivals

29. 8. 2013 - 15:10

Vom Space Cowboy bis zur Art-Porn-Queen

Die 70. Filmfestspiele von Venedig sind eröffnet.

"Wir sind Festivalalltag" - das haben 1.200 Filmjournalisten, Branchenakkreditierte und ich gestern bereits um 9 Uhr früh mit Schaum vorm Mund illustriert, als wir im Kuddelmudel von der massigen Schwerkraft in die Sala Darsena zum Presse-Screening von "Gravity" gedrängt wurden. Hier werden wir die nächsten 10 Festivaltage u.a. die 20 internationalen Wettbewerbsfilme abarbeiten, bevor sie ihre offizielle Premiere am Abend erleben.

George Clooney am Red Carpet

La Biennale di Venezia - Foto ASAC

Mehr als 10 Stunden haben hartgesottene (Clooney) Fans sich bei 30 Grad nicht aus dem prallen Sonnenfleck bewegt. Die Pole-Position um den 15-sekündigen Augenkontakt mit ihrem Hollywood-Liebling werden sie notfalls mit der Schirmspitze der Nachbarn verteidigen, haben sie mir geflüstert.

Die Schwerkraft bewirkt die gegenseitige Anziehung von Massen und lässt sich nicht abschirmen. Sie nimmt mit zunehmender Entfernung ab, besitzt aber unbegrenzte Reichweite. Ein physikalischer Grundsatz, der auf den Venedig-Eröffnungsfilm "Gravity" auf der 70. Mostra Internazionale d´Arte Cinematografica nur begrenzt zutrifft.

Gestern abend hat die Sci-Fi-Parabel des mexikanischen Regisseurs Alfonso Cuarón ("Y tu mamà También", "Harry Potter and the Prisoner from Azkaban"), die hier am Lido außer Konkurrenz läuft, den Startschuss für das renommierte Rennen um den Goldenen Löwen gesetzt. George Clooney und Sandra Bullock schwebten bei der Gala-Premiere über den Roten Teppich und dann nach 20 Minuten Hochspannung auf der Leinwand eine gefühlte Ewigkeit durchs All. Und zwar in 3D.

Der 3D-Effekt hat gleich einen gröberen Tumult unter den Filmkritikern ausgelöst. Denn mehr als tausend Kinosaal-Besucher wurden in der Vorab-Vorführung zu "Gravity" per Lautsprecheransage angewiesen, sich doch bemerkbar zu machen, falls die ausgehändigte 3D-Brille nicht funktioniere. Nachdem die Kurz-, Weit- und Gleitsichtigen unter uns ohnehin schon beim Versuch ins Schwitzen gekommen sind, das Size-Zero-Pseudo-Porsche-Design über ihren optischen Sehbehelf zu stülpen, schossen jetzt die Hände in die Höhe und das überforderte Security-Personal tauschte im Chaos eine kaputte Brille gegen eine andere (kaputte) aus.

Gravity

La Biennale di Venezia

Gravity

"Gravity" - George Clooney, Sandra Bullock und die seichte Philosophie in der Tiefe des Alls

In "Gravity" haben wir es mit dem erfahrenen Astronauten Matt Kowalski (George Clooney) zu tun, einem der Sorte "lässiger Space-Cowboy". Auf jedem Allspaziergang hat Kowalski den Schmäh von gestern parat, während Neuling Medical Engineer Dr. Ryan Stone (Sandra Bullock) beim Reparieren des Raumschiffs eine Kettenreaktion auslöst. Regisseur Cuaróns universelle Odyssee besteht zu geschätzten 99 Prozent aus Spacewalks seiner beiden Charaktere.

Dafür hat er eigene Kamera- und Lichtmethoden entwickeln lassen und Physiker engagiert, die das Team bei den aufwendigen Animationsdrehs über die Reaktion und Gegenreaktion von zusammenprallenden Objekten im All aufklärten.

Wenn Clooney und Bullock lost in Space einen unendlichen dunklen stereotypen Überlebenskampf fechten, zieht das vielleicht ein technisch raffiniertes, aber ein dramaturgisch unrhythmisches, philosophisch überladenes, hohles Desaster nach sich.

Sandra Bullock in Gravity

La Biennale di Venezia

Gravity

Bullocks Charakter muss sich erst mal vom männlichen Begleiter abnabeln, um ihre ungewisse Heimreise alleine antreten zu können. Ist die Verbindungsleine von Partner Kowalski mal durchschnitten und hat der ihr noch schnell erklärt, wie sie sich im Weltraum vom russischen Raumschiff über das chinesische Raumschiff zum Zürcher See vorhanteln könnte, strippt sich Dr. Stone in der Schwerelosigkeit der Bordkabine in embryonaler Stellung aus dem Raumanzug. Trotz Bullocks durchtrainiertem Yoga-Körper und ihrem kurzen Haar würden sogar die ukrainischen Femen (denen hier in Venedig die Doku "Ukraine is not a Brothler" gewidmet ist) und Barbarella gemeinsam auf die feministischen Barrikaden steigen bei dieser altbackenen Charakterzeichnung von Mann und Frau im Zukunftsszenario.

Der tiefe Sinn von "Gravity" liege in der Wiedergeburt des Individuums nach erlebten Missgeschicken, meinte Regisseur Alfonso Cuáron über die Symbolik seines Werkes gestern auf der Pressekonferenz. Während George Clooney da erwartungsgemäß nach seinem Senf zu Obamas Syrien-Politik gefragt wurde, beschäftigte eine andere Journalistin natürlich Sandra Bullocks Traumfigur in ihren Endvierzigern: "Could you please tell us more about your daily fitness training? I think you´re in the best shape of your life". Sie tanze einfach eine Stunde täglich zur schallend lauter Musik, trage ihren drei Jahre alten Sohn und ein bisschen Muskeltraining, "that's it".

George Clooney, Sandra Bullock, Alfonso Cuaron

EPA/ETTORE FERRARI

George Clooney, Sandra Bullock und der mexikanische Regisseur Alfonso Cuáron

Letztes Jahr hat Alberto Barbera den visionären Cineasten unter den Festivaldirektoren Marco Müller (jetzt Filmfestival Rom) abgelöst. Viele hier weinen dem charismatischen Müller noch immer eine Träne nach. Weniger radikal als sein Vorgänger setzt Barbera vor allem auf ein Cinema d´Auteur.

Filmfestspiele von Venedig

Er zeigt zwei Dokus im diesjährigem Wettbewerbsprogramm ( Errol Morris' "The Unknown Known" über eine Schlüsselfigur des Irak-Kriegs, den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und "Sacro GRA" über die römische Ringautobahn vom großartigen Doku-Minimalisten Gianfranco Rosi) und die neueste Arbeit des japanischen Animationsgotts Hayao Miyazaki, "The Wind rises" neben 17 weiteren Spielfilmen.

Ein Kino zwischen experimentellem Minimalismus und Arthouse, der sich an der Kinokasse nur mehr mit einem A-Star-Cast bezahlt macht, ist in Venedig heuer zu erwarten. Verstörung lässt sich in der gegenwärtigen Kinoindustrie nur mehr mit einer Portion Glamour, langen Produktionszeiten und/oder Finanzierungsschwierigkeiten realisieren.

Highlights weisen in die Zukunft - mit Scarlett Johansson und Christoph Waltz

Neben dem verzögert fertig gestellten Eröffnungsfilm "Gravity" wird hier über das Überraschungspotential von zwei weiteren - britischen - Science-Fiction-Stoffen spekuliert. Beide haben in der Herstellung einen Marathon hinter sich:

Zum einen wäre da "The Zero Theorem". Ex-Monty-Python Terry Gilliam ("Brazil") wollte eigentlich schon 2009 seine Regiearbeit mit Billy Bob Thornton als exzentrisches Computergenie besetzen. Es wurde dann doch 2012 bis endlich gedreht werden konnte. Und nun steckt Christoph Waltz in der Hauptrolle des Hackers. Wenn man so will, ist Waltz - neben einem einmütigen Kurzfilm von Ulrich Seidl anlässlich der Jubiläums-Feierlichkeiten des Festivals - heuer der einzige "Österreich"-Beitrag am Lido. Christoph Waltz dreht gerade Tim Burtons "Big Eyes" und es wird rumort, dass Kollege Matt Damon ohne seinen österreichischen Kollegen den Roten Teppich am Montag entlang laufen muss.

Christoph Waltz in "The Zero Theorem"

La Biennale di Venezia

The Zero Theorem

Und dann warten wir noch auf "Under the Skin". Zehn Jahre nach seinem mysteriösen Thriller "Birth" wird der famose Ex-Videoclip-Macher und "Sexy Beast"-Regisseur Jonathan Glazer in "Under the Skin" eine schwarzhaarige Scarlett Johansson in Pixie Boots und Stretch Jeans stecken. Als Alien ernährt sie sich von Autostoppern, die durch Schottland trampen. Scarlett Johanssons Besuch soll am Dienstag für irdischen Glamour sorgen.

Under The Skin

La Biennale di Venezia

Under The Skin

"The Canyons" - Hier ein Setbericht des Grauens, einer der besten Schnurren hinter den Hollywood-Kulissen 2013.

Es wird auch kolportiert, dass Lindsay Lohan (da campe ich dann vor dem Roten Teppich, um die himmlische Lohan zu sehen) ihr Comeback feiert. Wenn sie kommt, oder zu spät, oder gar nicht, um den Art-Porn "The Canyons" von New Hollywood-Veteran Paul Schrader ("Taxi Driver", "American Gigolo") zu präsentieren. Drehbuchautor Breat Easton Ellis jedenfalls hat sich angesagt.

The Canyons

La Biennale di Venezia

The Canyons

Festival-Hopper James Franco

Last but not least ist der permanente Festival-Hopper und Hipster James Franco heuer wieder nach Venedig gegondelt - in seiner Doppelfunktion als Regisseur und auch Schauspieler. Franco präsentiert seine Cormac McCarthy Romanverfilmung "Child of God" im Wettbewerb und er performt auch in einem Regie-Debüt der Orrizonti-Reihe, der Festival-Nebenschiene des innovativen "neuen" Films.

James Franco in Palo Alto

La Biennale di Venezia

Palo Alto Stories

Das gesamte Programm der Filmfestspiele von Venedig gibt es hier: 70. Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica

"Thank you, James!", heißt es da im Director's Statement von Gia Coppola, der Nichte von Sofia Coppola ("The Bling Ring", "Virgin Suicides"). Sie hat nämlich James Francos Buch-Beichte "Palo Alto Stories" verfilmt. Mit bekiffter Teenage Angst und alkoholschwangerem Sex ist zu rechnen. Ob das the next "Kids" wird? Das wird sich weisen.