Erstellt am: 31. 12. 2012 - 17:35 Uhr
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
Der Eklektizismus ist so gewöhnlich geworden, dass schon die Benutzung allein des Wortes mittlerweile gar arg müde und schablonenhaft daherkommt. Wenn ohnehin überall und jedem jeder Sound und jeder Stil der Musikgeschichte als schicke Verweisgröße und Bauteil für das eigene Laubsägen-Puzzle zur Verfügung stehen, kann das Ideal vom Musiker als Bastler ohne sogenannte Scheuklappen und als weitsichtiger Weltenverbinder zwischen den Genres schnell in Richtung willkürlich angehäufter Datenmüllhalde kippen. Allwissend zwar, aber warum nur?
Rewind 2012: Der FM4 Jahrerückblick
Gehoben und gesichtet sind natürlich zwar bei weitem noch nicht alle Musiken aus den Archiven der entlegensten Landstriche, dennoch: Den Wellen- oder auch den Kreis-Bewegungen von Hypes, Trends und Jeans-Jacken-Schnitten entsprechend, die besagen, dass nach Übererfüllung der einen Sache irgendwann der Backlash kommt - und mit ihm eine andere Sache, die der ersten nicht selten diametral gegenübersteht, versteigt man sich wohl nicht allzu sehr, wenn man nun nach sechs, sieben, acht Jahren der neuen Seltsamkeit 2012 als das Jahr ausruft, in dem sich die Ankunft der neuen Einfachheit deutlich abgezeichnet hat.
Musikrückschau Teil 1: Das neue Normal
Freilich kommt nach Jahr 1 mit diesem einen Trend A nicht das Jahr 2 mit diesem ganz anderen Trend Z, die Welt ist schließlich ein weit verzweigtes Netz aus Impulsen, Chemie und Geschmäckern, das nie jemand verstehen wird - es werden jedoch Tendenzen spürbar.
Alt-J
Irre Regulär
Im weiten, weiten Feld, das vielleicht gerade noch so irgendwie als Indie-Pop- oder -Rock durchgehen kann, machte sich 2012 eine leise Übersättigung von Hibbeligkeit und musikalischem Forschergeist um jeden Preis breit: Wenn in der jüngeren Vergangenheit so unterschiedliche Bands wie das Animal Collective, Hot Chip, Grizzly Bear, Foals oder die Dirty Projectors zwischen den Styles gefischt haben und beispielsweise Folk, Kraut und Elektronik oder Disco und Afrobeat, Popsong und Abstraktion zusammenbrachten, konnte man das als erfrischenden Ausbruch aus der öden Hölle des strikten Rock’n’Roll-Korsetts begreifen und bejubeln - mittlerweile kann man jedoch davon ausgehen, dass jede zweite Indie-Band als ihre drei Haupteinfluss-Quellen obskur verpitchten HipHop aus Houston, deutschen Minimal Techno (um 1993) und äthiopischen Free Jazz nennt. Alles außer Gitarre.
Das Animal Collective - eine der wichtigsten und besten Bands der letzten zehn Jahre - hat dieses Jahr mit seinem neunten Studio-Album "Centipede Hz" gleich noch einmal im Sinne der Überreizung das allergrößte Fass aufgemacht und eine Platte aufgenommen, auf der sich unzählige Sound-Ideen und angenehme Klang-Katastrophen überschlagen und gegenseitig den Weg verstellen, und die sozusagen die im Alltag sekündlich auf uns niederschlagenden Stimuli-Gewitter vertont. Das war sehr schön und interessant, allein: Man konnte es vorher schon ein bisschen gewusst haben. Man ist ja als Hörer schon auch ein kleines Kind. Man braucht immer wieder etwas Neues und wenn es schon nichts Neues gibt, dann immerhin etwas anderes.
Zwei frische Bands, einmal England, einmal Schottland, sind heuer mit ihren jeweiligen Debüt-Alben nach dem Modell eines jungen Gitarren-Menschen, der stilistische Lager-Zugehörigkeiten ohnehin nie gekannt hat, zwei sehr schöne und reiche Platten gelungen: Bei Alt-J und Django Django wirkte der Eiertanz zwischen Folk, quängeligem Pop, Elektronik und Krautrock über weite Strecken noch frisch und unverkrampft, da und dort schabten die beiden dann doch ein bisschen an den Pforten zur Affektiertheit. Insgesamt roch die Welt schon ein wenig nach dem Wunsch nach Reduktion, Entschlackung und schlichtem "Rocken".
Gimme Indie-Rock
The xx, deren zweites Album "Coexist" 2012 nicht gar so warm empfangen wurde wie das Debüt drei Jahre davor, aber gute Chancen hat in 15 Jahren, wenn die Beurteilung der zwei Platten nicht in Hinblick auf den jeweiligen Novelty-Faktor erfolgen wird, als das bessere der zwei Alben dazustehen, leben ohnehin auf einem eigenen Planeten. Er heißt Minimalismus. Jedoch scheint sich auch allgemein die Idee von Rock’n’Roll ohne großes Quatsch-Brimborium wieder gut zu etablieren. Man hört, du und deine Band hättet eure Turntables verkauft und euch Gitarren besorgt. Sampler und Drum-Machines - muss auch nicht immer sein.
Japandroids
Auf unterschiedlichen Schlachtfeldern des Gitarren-Krachs haben sehr gute Alben von beispielsweise dem kanadischen Trio Metz, den Cloud Nothings, King Tuff, The Men oder Ty Segall die Fahnen von schnörkellosem Noise, Punk oder Garagen-Rock hochgehalten. Die durchschlagendste und bei weitem auch betont "gewöhnlichste" Platte im Zeichen von Rock war aber das neue Album der Japandroids: Ganz unironisch konnte diese Platte "Celebration Rock" heißen. In gerade einmal dreißig Minuten werden hier an Gitarre, Drums und Gesang eine heilige Allianz von Moped-Rock, Hard- und Softrock und melodiösem Punk sowie ein einziger durchgehender Fist-Pumping-Moment gefeiert. Die Texte scheinen aus dem Poesie-Album des jungen Bruce Springsteen stibitzt zu sein. Es geht um Aufbruch, Liebe, jugendliche Rebellion.
Eine Platte, die auch die große Emotion nicht scheut - "Emotion" gerne auch wie in "Emo". Neben dem ewigen Hit "The House That Heaven Built" greift vor allem der Song mit dem schon wunderbaren Titel "Continuous Thunder" besonders gut in den Schmalztopf. Eine Ballade, die schon gar nicht mehr weit von einer Band wie den Get Up Kids oder frühen Green Day an einem besonders guten Tag entfernt ist und vor herrlichem Pathos vibrierende Zeilen wie diese hier im Gepäck hat: /
"If I had all of the answers /And you had the body you wanted / Would we love with a legendary fire?"
Legendary Fire. Eine Platte, eine Energie; darauf warten, dass nächstes Jahr endlich wieder Menschen in zu engen Jeans eine Platte vom Schlage des ersten Strokes-Albums veröffentlichen. Rock’n’Roll wieder als Möglichkeit begreifen.
Lee Gamble
Beatschall im Siech-Keller
35 sehr, sehr gute Alben des Jahres:
35) Lukid - Lonely At The Top
34) Cat Power - Sun
33) Purity Ring - Shrines
32) NHK’Koyxen - Dance Classics Vol I & II
31) Dirty Projectors - Swing Lo Magellan
30) Actress - R.I.P.
29) Alt-J - An Awesome Wave
28) Holly Herndon - Movement
27) LA Vampires with Maria Minerva - Integration
26) Chairlift - Something
25) Merveille & Crosson - DMR
24) Le K - Freewheel
23) Django Django - Django Django
22) Raime - Quarter Turns Over A Living Line
21) Andy Stott - Luxury Problems
20) Dntel - Aimlessness
19) Beach House - Bloom
18) Japandroids - Celebration Rock
17) Chromatics - Kill For Love
16) Tame Impala - Lonerism
15) Killer Mike - R.A.P.Music
14) Swans - The Seer
13) Bat For Lashes - The Haunted Man
12) Lee Gamble - Diversions 1994-96 & Dutch Tvashar Plumes
11) Terence Dixon - From The Far Future Pt. 2
10) Grizzly Bear - Shields
9) Julia Holter - Ekstasis
8) Sun Araw, M. Geddes Gengras & the Congos - Icon Give Tank
7) John Talabot - fin
6) The xx - Coexist
5) Vessel - Order Of Noise
4) Frank Ocean - Channel Orange
3) Kendrick Lamar - good kid, m.A.A.d. city
1) Grimes - Visions
Grimes - Visions
1) Laurel Halo - Quarantine
Laurel Halo - Quarantine
Wie immer - und wie alle Listen - ist diese Liste unerschütterlich objektiv. Dennoch: Was fehlt? Feel free to hate.
Angst vor allzu viel Gitarren-Dogma musste man aber auch 2012 nicht haben: Auch auf den vielen unterschiedlichen Baustellen elektronischer Musik machten sich die Freude an der Anti-Freude und eine Drehung hin zu Entkernung, Zersetzung und spartanischer Lebensweise bemerkbar. Zwar sind einige sehr gute und wunderbare Platten erschienen, die sich vergleichsweise konventionell an den Koordinatensystemen House und Techno abarbeiten, die Alben von Smallpeople und Christopher Rau beispielsweise, von Juju & Jordash, von Barker & Baumecker oder auch den fantastischen Voices From The Lake, wirklich Markerschütterndes passierte dann dennoch - auf Album-Format - in den Bereichen des Sound-Experiments und der merkwürdigen Beatverschiebungen.
Von Labels wie PAN, L.I.E.S., Modern Love, Blackest Ever Black, Editions Mego und vor allem dessen Sub-Labels Sensate Focus und Spectrum Spools und Acts wie Helm, Vessel, Lee Gamble, Raime, Container oder Andy Stott wurden neue Verbindungslinien zwischen Noise- und Drone-Musik, ruppigem Techno, Dancefloor, Industrial und abstrakter Klangkunst sichtbar gemacht. Es war ein Jahr der Entschleunigung, ein schwarzes, gutes Jahr.
Grimes
Träumen wir von echten Schafen?
Die zwei wichtigsten, interessantesten und besten Platten des Jahres verhalten sich zueinander wie zwei komplementäre Abhandlungen zu den Themen Technologie und Internet, "Authentizität" und Cyborg-haftigkeit, Gegenwart und Zukunft, Science-Fiction und ins Innerste blickende Seelen-Reportage. Schön sind diese beiden Platten nicht immer, brauchen jedoch tut man alle zwei. Der kanadischen Musikerin Claire Boucher ist dieses Jahr mit dem dritten Album ihres Projekts Grimes der große Durchbruch gelungen. Auf Tournee mit Diplo und Skrillex, Magazin-Cover, auch adrett frisiert, überall. Warum Grimes und ihr Album "Visions" so fantastisch sind, stand schon hier genauer.
Am Ende des Jahres steht Grimes nun als schillerndes, gerne auch albernes Role-Model da, als Mode-Ikone eines nicht für möglich gehaltenen Cartoon-Crossovers. Eine junge Frau, die die schon ein bisschen leer gewordene Idee des Do-It-Yourself in allen Farben und Formen vorlebt und bei der die Hyperaktivität und das bei natürlich schon frech - doch noch einmal - quer durch die Styles exerzierten Sound- und Zeichen-Diebstählen versammelte Material eben nicht in einer Museums-Ausstellung exotischer Einzelstücke endet, sondern zu einer nie gehörten Roboter-Sprache gerinnt, die dabei aber so stimmig und natürlich fließt, sprudelt und tanzt, als wäre sie immer schon dagewesen.
Laurel Halo
Bei Laurel Halo hingegen jedoch herrscht Leere. Die ursprünglich aus Michigan stammende, mittlerweile in Brooklyn ansässige Musikerin betreibt auf ihrem bei Hyperdub erschienenen Debüt-Album "Quarantine" Entmenschlichung durch Echtheit und entwirft so eine Welt, die mittlerweile futuristischer anmutet als jede Computer-Manipulation. Über blubbernden und kargen Moor- und Marslandschaften, kalten elektronischen Schlieren und Restspuren von Dubstep liegt Halos Stimme nahezu unbearbeitet und sehr oft auch schlicht falsch tönend. Es entsteht ein unangenehmes, ein irritierendes, ein den Hörer komplett in einen unbekannten Bewusstseinszustand ziehendes Ungleichgewicht zwischen Mensch und Maschine.
Grimes und Laurel Halo: Hier sind zwei Menschen und zwei Platten, die diese merkwürdige und komische und schrill blinkende und ständig grell aufschreiende Welt, in der wir leben, zwar auch nicht erklären können, aber immerhin abbilden, kommentieren und in seltsam verschlungene Richtungen weiterdenken. Zwei Popstars für eine schönere und mit Sicherheit noch viel verwirrendere Zukunft als die von gestern.