Erstellt am: 28. 2. 2012 - 10:43 Uhr
Alle Synapsen platzen
Das Lieblingswort von Claire Boucher ist "like". Trifft man die junge, kanadische Musikerin, die seit gut 2 Jahren als Grimes durch die Blogs geistert, zum Interview, kann man sie das übel beleumundete Füllwort nach jeder sechsten Silbe sagen hören: "You know, like" und "like - I don't know". Man sitzt da einer - entgegen des häufig von ihr transportierten Bildes, etwas weird, also vermutlich auch schwierig zu sein - freundlich überdrehten Frau gegenüber, die die Referenzen im Sekundentakt droppt, sich verhaspelt, über ihre eigenen Albernheit schrill auflacht und sich laufend selbst widerspricht - und dabei glücklicherweise nie den Anschein erweckt, als wäre eben das nicht das Natürlichste auf der Welt.
Die Musik von Grimes dockt an den unterschiedlichsten Styles an und ist ein bunt zusammengeschmissenes Kauderwelsch, alles ist irgendwie und "like". "Ich mag keine Gitarren, ich werde nie Musik mit Gitarren machen", sagt Grimes, und Minuten später: "Was rede ich da eigentlich? Ich mag Joy Division, ich liebe The Smiths. Alles was ich vorhin gesagt habe, kann man vergessen. Es liegt vermutlich nur daran, dass ich nicht Gitarre spielen kann."
Raphael Ouellet
Aktuell steht Claire Boucher mit ihrem Projekt Grimes am Zenith des gerechten Hypes: Ihr drittes Album "Visions" ist soeben in der De:Bug und in der Spex zum Album des Monats bzw. der Ausgabe gekürt worden, in jedem zweiten Blog, der sich mit Post-Chillwave und Gorilla-vs-Bear-Core befasst, wird ein potentielles Album des Jahres ausgerufen - einzig auf Pitchfork gab's trotz "Best New Music"-Auszeichnung nur matte 8.5 Punkte. Dabei ist "Visions" eindeutig 9.2. Auf "Visions" kulminiert alles, was auf den beiden Vorgänger-Alben von Grimes noch ein munteres Herumprobieren war, ein "happy guessing", wie die Musikerin selbst sagt, in einer ziemlich verstörenden Perfektion, der dabei gleichzeitig nach wie vor die Aura des Unaufgeräumten und Beiläufigen anhaftet.
Die beiden - auch sehr guten - Platten "Geidi Primes" und "Halfaxa" waren noch skizzenhafte Lo-Fi-Elektronik, ruckelig und störrisch, an rudimentärem Schlafzimmer-Equipment mal da, mal dort als Hobby zusammengeschustert und ohne großen Masterplan auf CD-Rom gebannt. Was nun auf "Visions" zuallererst auffällt, ist der Sound. Nachdem Grimes "Geidi Primes" und "Halfaxa" mit und auf dem in Montreal beheimateten - zwar großartigen, jedoch kaum flächendeckend agierenden - Label/Künstler-Kollektiv Arbutus veröffentlicht hat, erscheint "Visions" nun auch in Zusammenarbeit mit dem englischen Traditionslabel 4AD, das aktuell neben Deerhunter, Bon Iver, TV on The Radio oder Twin Shadow zwar noch gut zwei Handvoll andere, die experimentelleren Seiten von "Indie" im weitesten Sinne ausleuchtende Acts im Stall hat, nicht selten aber noch vor allem mit seiner "traditionellen" Phase assoziert wird - in den 80ern, als ebenda Bands wie die Cocteau Twins oder Dead Can Dance verspukte Nebelmusik in die Welt tropfen ließen.
4AD
Mit "Visions" hat Grimes jetzt die nicht unübliche Professionalisierung in der Klang-Ästhetik vollzogen: Ihr neues Album ist der Versuch, bei kaum verbessertem Equipment und Beibehaltung des DIY-Anspruchs eine Art Hi-Fi-Platte aufzunehmen. Die Stücke sind glatter poliert und stärker Richtung Pop getrimmt, Grimes' Stimme deutlich in den Vordergrund gemischt. Die Stimme ist das Hauptinstrument von Grimes, was nach Meinung der Musikerin die größte Gemeinsamkeit mit Elizabeth Fraser von den von ihr verehrten Cocteau Twins und - eine der Lieblingsstimmen von Grimes - Enya ist: Grimes doppelt, schichtet und manipuliert ihre Stimme und gestaltet sie zu Soundwänden aus, die sich wie finsterer Rauch durch die Platte ziehen. "Visions" kokettiert mit der Düsterkeit: "Meine Musik ist deprimierend, sie ist dunkel und desolat. Das soll den Menschen aber Freude bereiten. Ich finde deprimierende Dance Music ist das Größte."
Hinein in ein aus Restspuren von Industrial, Goth und giftigem Maschinen-Rauschen gestaltetes Ambiente stellt Grimes höchste, gerne auch über die Stränge schlagende Pop-Sensibilät: Elektronischer Soul und R'n'B, slickes HipHop-Geschmeide, das sich mitunter - noch recht dilettantisch zwar - an die Produktionen der Dungeon Family aus dem Outkast-Umfeld oder den frühen Timbaland anlehnt, und deutliche Anklänge an kaugummiförmige Chartsmusik aus Korea und Japan. Dabei ist die emotionale Überhöhung bis hin zur cartoonhaften Entrückung wohl ein Markenzeichen von Grimes: "Ich würde sagen, ich bin eher Emo als Goth. Emos haben zwar einen schlechten Ruf oder whatever, aber mir gefällt die Vorstellung von Menschen, die superemotional sind und bunte Haare richtig zu schätzen wissen."
Grimes - Visions
"Visions" ist eine Platte, die extrem viel weiß und versucht, dies und jenes zusammenzuführen, dann aber doch zu keinem kohärenten Ganzen kommen will und die wild durch die Gegend turnenden Styles noch recht deutlich aufscheinen lässt. Eine Platte, im Zusammenhang mit der man auch Wörter verwenden kann wie EBM, Post-Witch-House, Kreissäge und Mariah Carey. Dass jede und jeder sich aus allen möglichen Versatzstücken die eigenen Wundersounds zusammenpuzzeln kann, ist weder neu, noch als Tatsache an sich besonders. Hier entsteht jedoch eine tatsächlich nach Zukunft riechende Fantasie-Musik. Hier gibt es süßestes Liebesschmalz, daneben schält sich ein noisig scheppernder Track wie "Eight" aus dem Dickicht: "Ich wollte ein Stück machen, das klingt wie ein Football-Spiel. Ich habe an die Girls von TLC gedacht, an hübsche Cheerleader, die crazy shit machen, aber auch an Aphex Twin. Es ist wie Feuerwerkskörper in einer schrecklichen, psychedelischen Fabrik abzuschießen. Darum geht's in dem Lied." "Visions" ist ein Album des Jahres - mindestens bis demnächst das neue, zweite Album von Julia Holter erscheint.
Ein entrücktes Kieksen, eine offensiv ausgeführte Andersartigkeit. Grimes stellt eine gefährliche Existenz am Rande dar, in der Popmusik "neu" und die Möglichkeiten endlich wieder einmal unendlich erscheinen. Natürlich ist das alles, und auch alles was mit und um Grimes herum passiert, eine Musik und eine Angelegeheit, die vielen Menschen furchtbar auf die Nerven gehen wird. Nicht vor allen Dingen, aber schon auch ein bisschen irgendwie deswegen, sind "Visions" und Grimes im Allgemeinen so ein wunderbar die Tauben aufscheuchender Schlag ins öde Leben.