Erstellt am: 30. 12. 2012 - 16:08 Uhr
Das neue Normal
"A Short Film" steht als Untertitel auf dem Cover eines der besten Alben des Jahres geschrieben. Und noch dazu ist es ein Album, das - aufgrund seiner Genre-Zugehörigkeit vielleicht ein wenig überraschend - flächendeckend mehr als wohlwollend aufgenommen wurde. "A Short Film" heißt es - die Losung "Konzept-Album" wäre heute wohl zu stark, nicht zuletzt in HipHop und Rap, vom Hauch des Vorgestrig-Miefigen behaftet, vom Modell der Prog-Rock-Oper, von einer Ästhetik airgebrushter Fantasy-Recken und Drachen-Schlachter. Die Idee hinter Kendrick Lamars heuer erschienenem Durchbruchs-Album "good kid, m.A.A.d. city" ist, wenngleich zeitgemäßer dargeboten, jedoch eine ähnliche: Hier wird ein zusammenhängendes Werk präsentiert. Ja, ein Werk. Eine Platte, die ein Album ist. Nicht bloß ein Container für steil abgehende Single-Hits, die es hier freilich trotzdem zuhauf anzutreffen gibt, sondern eine kunstvoll und schön gewobene Erzählung mit Dramaturgie.
Rewind 2012: Der FM4 Jahresrückblick
Allerorts hört man gerne vom Niedergang der Kultur: Musik ist tot, alle starren ständig auf die kleinen und mittelgroßen schwarzen Spiegel, die uns in unseren Hosentaschen und Fahrradkurier-Taschen Tag und Nacht begleiten, lesen kann angeblich auch niemand mehr. Das ist doch ermüdend.
Der Behauptung und sicher auch nicht selten der Tatsache zum Trotz, dass Musik heutzutage ohnehin bloß noch als beiläufig und als komplett uninteressiert aus der Luft gezogener Klingelton konsumiert werde, hat sich das Jahr 2012 an nicht wenigen Orten darum bemüht, die gute alte Popmusik ausdrücklich noch einmal als große Kunstform zu stemmen: In Zeiten von im Zufallsmodus zusammengewürfelten Playlists, Streaming-Diensten und jeden Tag vierhundert frei verfügbaren geilen Blog-Hits, muss Musik, um einmal noch die verdiente Aufmerksamkeit abzugreifen, ab und zu erst recht als Kunstwerk formuliert und mit einem Rahmen versehen werden.
Kendrick Lamar
Musik als Arbeit
Flashy Dance-Floor-Knaller, hier der muntere, da der melancholische Pop-Song - sie erfüllen freilich den Zweck (Party, Tanzen, Singen, gut gelaunt Flöten, Trübsalblasen), unabhängig davon aber bot 2012 genügend Anlass und erfreulichen Grund, das jedes Jahr verlässlich totgesagte Format "Album" als Gegengift zu Beiläufigkeit und Unverbindlichkeit zu begreifen und hochleben zu lassen. Oft hat das Jahr die Frage gestellt: Muss und/oder darf Musik zuvorderst immer nur Spaß machen? Oder soll sie da und dort auch dazu einladen, sich mit einer eventuell "schwierigen" Arbeit tiefschürfender auseinanderzusetzen, in wirre unbekannte Universen einzutauchen und sich vielleicht ein bisschen verunsichern und im Leben stören zu lassen?
"The Seer" von der Gruppe Swans ist so ein Album des Jahres gewesen, dem Anschmeichlung wohl der größte Feind ist. Ein schwerer Ziegel, voll mit repetitivem Lärm und Krach und unangenehmer Stille. Wenn man aber einmal im finsteren Zimmer einsam auf dem Bett liegend diese zwei Stunden Sound-Arbeit und Seelen-Pein in einem Durchgang in Körper und Geist erfahren hat, stehen die Chancen nicht schlecht, danach ein neuer Mensch geworden zu sein.
Es geht aber auch einfacher, wie zum Beispiel mit Kendrick Lamars Album: Ein Grund, weshalb "good kid, m.A.A.d city" auch Einzug in Magazine gehalten hat, die für gewöhnlich staubigen Rock- und Songwriter-Konservativismus pflegen, dürfte nicht zuletzt die Tatsache sein, dass hier eben eine Geschichte erzählt wird, also schön Mehrwert in diese Platte hineininterpretiert werden kann und auch vorhanden ist. Lamar erzählt vom Gang-Life, von Drogen, Kriminaliät und Sex in seiner Heimat Compton, beleuchtet dabei die längst schon zum Klischee erstarrten Topoi aber aus den unterschiedlichsten Perspektiven und Gemütslagen, von diversen Einsichts- und Erkenntnis-Stufen aus.
El-P & Killer Mike
Was aber "good kid, m.A.A.d city" endgültig jetzt schon zum Klassiker macht, ist, dass man das alles, wenn man zum Beispiel mit dem Englischen und Compton-Slang nicht gar so firm ist und nicht Tage vor erläuternden Websites zubringen möchte, auch gar nicht unbedingt so genau wissen muss. Die Platte ist musikalisch großartig gestaltet, wie Lamar die Stimmlagen, Stimmungen und Tempi switcht ist atemberaubend. Das Album "good kid, m.A.A.d city" kann - dann eben doch - auch schlicht in Hinblick auf die Musik genossen werden, man kann aber genauso, wenn man denn will, versuchen, hinter die doppelten und dreifachen Böden zu blicken. Die Platte scheint ein Geheimnis zu bergen.
Vereinfachen, im Kern ankommen
Auch steht sie relativ einsam außerhalb aktueller Trends im HipHop-Mainstream: Wo anderswo Rave-Fanfaren, Lametta und schrillbunt überbordende Opulenz dominieren, wird hier eine neue Einfachheit gepflegt. Zwar waren für die Produktionsarbeit verschiedene große Namen wie Pharrell, Just Blaze oder Scoop DeVille zuständig, dennoch protzt "good kid, m.A.A.d city" eben nicht mit Style-Vielfalt und auch nicht als Potpourri der Möglichkeiten, nein, hier scheint sich alles uneitel unter dem Kuratoren-Händchen von Lamar zu einem unaufdringlichen, geschmeidigen Ganzen zu fügen.
Als Statement gegen grassierende Moden von Dancefloor-Zinnober und EDM-Quatsch im Rap und als Affirmation von gesunder Schlichtheit und einer Back-to-Basics-Attitude versteht auch Killer Mike sein aktuelles Album. Es heißt pragmatisch "R.A.P. Music". Der langgediente MC aus Atlanta und Outkast-Weggefährte hat mit dem New Yorker Produzenten El-P das zweite große Rap-Album des Jahres aufgenommen, wenngleich in deutlich härterer Gangart; ein Album, das auf Girlanden verzichtet. Gebaut von einem einzigen Produzenten, noch dazu mit El-P von einem Mann, den man bis vor Kurzem noch wohl eher mit den Etiketten "Indie" und "Underground"-Rap beklebt hätte, und einem MC aus dem HipHop-Mekka des auch um unangenehme HipHop-Stereotypen oft nicht verlegenen Dirty South.
Die ollen Kategorien "Mainstream" und "Indie" finden hier nicht statt, die Zusammenarbeit von El-P und Killer Mike scheint dermaßen normal und funkelt dermaßen zwingend - man muss sich tatsächlich ein bisschen wundern, warum dieses Dreamteam erst jetzt zueinander gefunden hat. Am Ende steht ein schlankes, durchschlagendes Rap-Album, das klarmacht, worum es in dieser Musik dann doch noch gehen kann.
TNGHT
Ein paar Menschen am Mikrofon sind dann auf "R.A.P. Music" aber natürlich doch zu Gast - zum Beispiel T.I., der selbst in jüngerer Vergangenheit nicht allzu viel Bemerkenswertes von sich hören hat lassen, aber dennoch aus der dritten Reihe quasi eine der wichtigsten Fußnoten des Pop-Jahres gewesen ist: T.I. hat die Hype- und so auch unvermeidlich schnell Diss-Nischen-Musik des Jahres zwar nicht erfunden, ihr aber mit seinem Album "Trap Muzik" aus dem Jahr 2003 ein frühes Denkmal gesetzt: "Trap", das durfte man heuer irgendwann nur mehr hinter vorgehaltener Hand flüstern, wissend die Augen verdrehen und die Stirn runzeln.
Zärtlich mit Trends umgehen
Wie bei allen Hype-Sounds, egal ob Witch House, EDM, Chillwave, Post-Step, whatever wäre auch bei Trap mehr Nüchternheit im Umgang wünschenswert: Zwischen "ironischer" Verulkung, Hass und ungebremster Euphorie liegt der schönste Weg wohl wie immer irgendwo in der Mitte. "Trap", ein Sound, der meist durch harte Snare-Salven, tiefgelegten Bass und besonders schillernde Synthesizer-Fanfaren gekennzeichnet ist, hat aus dem HipHop-Süden der USA seinen Weg in die unterschiedlichsten Styles gefunden und vor allem mit elektronischer Club-Musik mal wunderbare, mal bloß mit den "coolen" Zeichen des Genres operierende Hybride geformt.
Die definitive und all things Trap am besten bündelnde Platte war dieses Jahr die EP von TNGHT, einem Projekt von Hudson Mohawke aus Glasgow und Lunice aus Montreal. Die beiden bislang ebenfalls eher im vertrackten Elektronik-Underground verorteten Produzenten haben sich mit ihrer slick und perfekt auf den Punkt produzierten EP dem gleißenden HipHop-Mainstream angedient, was erwartungsgemäß auch gleich in einer Zusammenarbeit mit Kanye West mündete. Die TNGHT-EP ist eine Zusammenfassung, ein sauber ausformuliertes Dokument eines Sounds, der die Sättigung erreicht hat. Ein prächtig glitzerndes Produkt, nun aber mögen neue Dinge geschehen.
Frank Ocean
Ein merkwürdigerweise irgendwie immer noch als groß wahrgenommener Brückenschlag ist dem allerorts zurecht als Mann des Jahres abgefeierten Frank Ocean gelungen: Sein, ja, Meisterwerk "Channel Orange" hat 2012 aus Science-Fiction-Soul, Zukunfts-R’n’B, Funk und Traditions-Pflege eine mühelose Musik entwickelt, an der heuer niemand mit zwei Ohren vorbei konnte und die majestätisch über allen Genre-Zuschreibungen schwebend vor allem eines war: großer Pop. Dafür, dass seine Musik gerne "Hipster-R’n’B" geheißen wird, oder auch - von der bei diesem angeblich existierenden Menschenschlag "Hipster" beliebten Biermarke Pabst Blue Ribbon hergeleitet - "PBR’n’B - dafür kann Frank Ocean ja nichts.
Musik-Rückschau Teil 2: Indie? Rock? Weirde Elektronik? Und 35 sehr, sehr gute Alben des Jahres. In Listenform.
Dass R’n’B und Soul auch ganz einfach so ohne erklärendes oder den Hörer in seiner Indie-Haftigkeit beruhigendes Präfix gehört und für gut befunden werden können, wird sich jetzt hoffentlich etwas besser herumsprechen. Die Verwendung des Wortes "Hipster" ist mit egal welcher Intention und Wertung falsch und peinlich geworden.