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Rainer Springenschmid

Punk & Politik, Fußball & Feuilleton: Don't believe the hype!

15. 11. 2012 - 14:00

Von Arbeitern und anderen Prolos

Der linke Journalist Owen Jones beschreibt in seinem Buch "Prolls", wie die weiße Arbeiterklasse Großbritanniens entwürdigt und ausgegrenzt wurde.

Es ist schon ein paar Jahre her, dass es en vogue war, sich hämisch feixend vor den Fernseher zu setzen und der Unterschicht dabei zuzuschauen wie sie übereinander her fällt. In Restbeständen hat sich das Phänomen ja bis heute erhalten, aber inzwischen gibt es immerhin den Begriff "Sozialporno", der zeigt, dass sich zumindest einige Konsumenten Gedanken über diese empathielose Form der Belustigung machen.

Wer sind diese Menschen, die man da begafft? "White Trash", der Begriff, der aus den USA importiert wurde, führt die Entmenschlichung schon im Namen, die sich das britische Wort "Chavs" erst aneigenen musste. In Großbritannien gibt es Websites wie ChavTowns, die das Wort im Namen führen und sich die Erniedrigung der Menschen zum Auftrag gemacht haben, die in ärmlichen Gegenden wohnen. "Chavs" heißt Owen Jones Werk im englischen Original, und der Untertitel beschreibt das Buch in einem Satz: "The Demonization of the Working Class".

Prolos, Chavs, White Trash

Portraitfoto Owen Jones

Rose Hall

Owen Jones

Owen Jones ist ein junger linker Journalist, der am Rande einer Gegend aufgewachsen ist, die auf der Website ChavTowns unter "worst places to live" kategorisiert ist: in Stockport bei Manchester. Er selbst stammt aus der Mittelschicht, hat aber mit vielen Kindern aus armen Schichten die Schulbank gedrückt. Nach dem Geschichtsstudium in Oxford hat Owen Jones für Gewerkschaften gearbeitet und für Labour-Abgeordnete. Veröffentlicht hat er unter anderem im Guardian, im New Statesman, im Sunday Mirror, in der Sun und in der F.A.Z., seit April bloggt und kolumniert er für den Independent. Seit der Veröffentlichung von "Chavs" im Jahr 2011 in Großbritannien gilt er in seiner Heimat als einer der herausragendsten linken Denker.

Owen Jones beschreibt, wie die Politik Margaret Thatchers Großbritannien vom Industriestandort in ein Dienstleistungs- und Finanzzentrum verwandelte. Damit einher ging die Zerschlagung der britischen Industrie und der Gewerkschaften. Ganze Landstriche, die einst das industrielle Rückgrat des Landes gebildet hatten, verloren ihre wirtschaftliche Grundlage; die Bevölkerung wurde in die Arbeitslosigkeit entlassen.

"Wir sind jetzt alle Middle Class"

The Kids' New Gear
Der Umgang mit dem Chav in der britischen Alltags- und Popkultur von Robert Rotifer

Auf Rehwildjagd mit Jesus
Eine Reportagensammlung über die weiße ArbeiterInnenschicht in den USA, rezensiert von Irmi Wutscher

Arbeit nervt?
Ein Mixtape zum Thema Beruf und Arbeit von Kathi Seidler

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Owen Jones beschreibt den soziökonomischen Wandel der Achtziger und Neunziger Jahre nicht als Naturphänomen, wie ihn Thatcher selbst darstellte, um ihre Politik als "alternativlos" verkaufen zu können, sondern als politisches Projekt. Damit einher ging, so Jones, eine ideologische Kampagne: Thatcher machte der Working Class das Angebot, in die Mittelklasse aufsteigen. "Wir sind jetzt alle Middle Class" lautete das Schlagwort. Oberschicht und Arbeiterklasse wurden damit offiziell für aufgelöst erklärt. Für die Oberschicht hatte das den Effekt, dass sie sich nicht mehr für ihre Privilegien rechtfertigen musste und Umverteilung als Angriff auf die Mittelklasse, also uns alle interpretiert werden konnte.
Am anderen Ende der Gesellschaft wurde mit Industrie und Gewerkschaften auch die Klassensolidarität zerschlagen. Anstatt wie bisher gemeinsam für bessere Lebensbedingungen zu kämpfen, fuhren Proletarier die Ellbogen aus, sie verschuldeten sich, um ihre privatisierten Genossenschaftswohnungen kaufen zu können und taten alles, um sich von ihrer Herkunft abzusetzen. "There is no such thing as 'society'", proklamierte Thatcher und erklärte die Selbstverantwortung des Individuums zur obersten Maxime. Working Class, einst ein Etikett, das der britische Arbeiter mit Stolz trug, wurde zum Schimpfwort. Denn wer übrig bleibt im Aufstiegskampf ist selber schuld. White Trash. Chavs. Unterschicht.

Dieses selber schuld ist für Owen Jones ein zentrales Element thatcheristischer Ideologie. Es ist nicht nur die politische Grundlage, die Sozialabbau rechtfertigt, sondern auch die Grundlage für den Spott und Hass, der die übrig gebliebenen Mitglieder der einst stolzen weißen Arbeiterschicht vogelfrei macht, zur Zielscheibe für medial übermittelten Hohn.

Da hilft es natürlich, dass die einstige Working Class auch in Politik und Medien nicht mehr ausreichend repräsentiert ist. Owen Jones weist nach, dass sowohl im Parlament als auch in den Redaktionen der einflussreichen Zeitungen und TV-Sender Menschen mit Herkunft aus der Arbeiterklasse stark unterrepräsentiert sind, Menschen aus der Oberschicht hingegen stark überrepräsentiert.

Die Heimatlosigkeit der Linken

Auch für linke Parteien und Medien verloren klassische Themen wie Solidarität, Umverteilung und soziale Benachteiligung notgedrungen an Bedeutung; man wollte schließlich nicht als reformrestistentes Überbleibsel einer vergangenen Zeit dastehen. So konzentrierte sich linke Politik auf andere Formen der Marginalisierung: man sprach über gesellschaftliche Themen wie Rassismus und Sexismus – was auch Owen Jones für notwendig hält – aber man sprach eben nicht mehr über die ökonomische Situation der Arbeiterklasse. Gemeinsame gesellschaftliche Interessen von einheimischen und zugewanderten Arbeitern standen nicht mehr zur Debatte – und genau das gab der rechtsextremen BNP Anknüpfungspunkte, um einen ethnischen Keil in die Arbeiterschaft zu treiben.

Auch nach der Regierung Thatcher war der Thatcherismus noch lange nicht am Ende. Die Labour Party, einst der parteipolitische Arm der Gewerkschaften, war von Thatchers Politik marginalisiert worden. Die Werte und die Bevölkerungsschichten, die sie einst stark gemacht hatten, existierten zumindest offiziell nicht mehr. Da kam jemand wie Tony Blair, der Thatchers Politik übernahm und ihr ein soziales Mäntelchen umhängte, gerade recht. "Die Verzweiflung und Mutlosigkeit der Partei ermöglichte es Blair und seinen Leuten, der Labour-Partei den Stempel aufzudrücken", schreibt Owen Jones. "Dazu gehörte die Vorstellung, jeder sollte zur Mittelschicht gehören. Da verwundert es nicht, dass Margaret Thatcher auf die Frage nach ihrem größten Erfolg wie aus der Pistole geschossen antwortete: »Tony Blair und New Labour. Wir haben unsere Gegner gezwungen, ihren Kurs zu verändern.«

Thatcherismus ohne Thatcher

Cover des Buchs "Prolls", unscharfes Foto von Polizisten in Riot Gear

Verlag André Thielen

Prolls - die Dämonisierung der Arbeiterklasse von Owen Jones ist in der Übersetzung von Christophe Fricker im Verlag André Thiele erschienen.

Um einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Owen Jones jammert nicht. Sein Buch ist nicht der Versuch, Schuldige zu finden oder das ewige Feindbild der britischen Linken, Margaret Thatcher, ein weiteres Mal mit Schmutz zu bewerfen. An manchen Stellen merkt man ihm an, dass es ihm fast unangenehm ist, schon wieder Thatchers Politik als Ursache allen Übels benennen zu müssen.

Aber seine Beweisführung ist bestechend. Owen Jones zitiert ehemalige und aktuelle Politiker, die er zum guten Teil selbst interviewt hat; er zitiert wissenschatliche Literatur – auf knapp 300 Seiten sammeln sich 220 Fußnoten mit Literaturverweisen – er führt Statistiken und Meinungsumfragen an und ordnet sie ein. Und nicht zuletzt ist es auch der Ausgangspunkt seiner Sozialstudie, die Empathie mit der er den Chavs begegnet, die seine Argumentation schlüssig macht.

Denn Owen Jones macht sich tatsächlich auf die Suche, warum etwa das Verschwinden von Madeleine McCann, ein Mädchen aus einem gut bürgerlichen Elternhaus, eine weltweite Medienhysterie auslöste, während kurz darauf das Verschwinden von Shannon Matthews aus der ChavTown Dewsbury in West Yorkshire weit weniger Menschen interessierte.

Prolls - die Dämonisierung der Arbeiterklasse ist ein hervorragend geschriebenes Werk, mit Herzblut, aber nicht mit heißer Feder verfasst, das ausgehend von den Marginalisierten unserer Gesellschaft die letzten 30 Jahre Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik Revue passieren lässt.

Owen Jones im Gespräch mit Zita Bereuter auf der heurigen Frankfurter Buchmesse

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