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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

15. 11. 2012 - 12:48

The Kids' New Gear

Zum Schwerpunkt über Owen Jones' Buch "Chavs", zu deutsch "Prolls": Der Umgang mit dem Chav in der britischen Alltags- und Popkultur bzw. "old chav" versus "modern chav".

Von Arbeitern und anderen Prolos
Buchrezension von Rainer Springenschmid

Arbeit nervt?
Ein Mixtape zum Thema Beruf und Arbeit von Kathi Seidler

Owen Jones' Buch "Chavs"*, zu deutsch "Prolls", beginnt im Original mit dem Satz: "It's an experience we've all had" - eine Erfahrung, die wir alle hatten.

Die Erfahrung, die er beschreibt, ist jener Moment, da in "unserem" jeweiligen sozialen Kreis zum ersten Mal über Chavs hergezogen wurde, ob in einem ironischen oder ernsthaften Kontext.

Für irgendwie "leftie" sozialisierte Briten bedeutet dieser Augenblick den Fall eines Tabus. Und Jones ist nicht der einzige, bei dem eben diese Erkenntnis einen schalen Nachgeschmack hinterließ ("How has hatred of working-class people become so socially acceptable?"). Daher auch der Erfolg seines Buchs.

Sein oben zitierter erster Satz bedient einerseits den billigsten aller rhetorischen Tricks und ist andererseits die ehrlichste aller möglichen Eröffnungen.

Mit seinem Gebrauch von "we all" macht Owen Jones uns von Anfang an zu Verbündeten seines Plädoyers, aber er gibt auch zu, dass sein Buch niemand erreichen wird, der selbst nicht mit einigem Sicherheitsabstand außerhalb jener Gruppe steht, die er in seinem Plädoyer verteidigt.

Man braucht keine Vorurteile zu bemühen, um zu erahnen, dass Chavs das Buch "Chavs" nicht lesen werden. Besser ließe sich das existenzielle Problem der von den traditionellen Strukturen einer Arbeiterbewegung losgelösten intellektuellen Linken des 21. Jahrhunderts übrigens kaum illustrieren.

Aber ich schweife ab. Tatsache ist, dass ich beim Lesen des Buchs "Chavs" auf der Straße darauf achtete, das Cover möglichst in meinen Händen zu verbergen, schließlich konnte ich davon ausgehen, dass Uneingeweihte das Buch für eines der vielen Chavploitation-Machwerke gehalten hätten, die seit Jahren insbesondere den vorweihnachtlichen Scherzbuchmarkt überschwemmen.

Chav unscharf in schwarz weiß auf der Straße

Robert Rotifer

Das Wort "chav" an sich macht alle, die es gebrauchen, zu TeilnehmerInnen dessen, was Owen Jones als "Demonization of the Working Class" bezeichnet. Nicht ohne Grund behandeln etwa in der Schule meines Sohnes bereits manche Lehrer "chav" genau wie homophobes oder rassistisches Vokabular als verbotenes Wort.

Zwar gibt es, wie Owen Jones in seinem Buch erwähnt, auch längst Leute, die sich selbst Chavs nennen. Aber er setzt analog zum Gebrauch des Worts "nigger" im Hip Hop auseinander, warum "chav" als Selbstdefinition legitim sein kann, als Definition anderer dagegen nicht.

Das Lesen dieses kleinen Exkurses hat mich jedenfalls an ein Gespräch erinnert, das ich 2009 mit dem Maler, Dichter, Punk-Musiker der ersten Stunde und leidenschaftlichen Provokateur Billy Childish in der Küche seines Reihenhauses in seiner Heimatstadt Chatham führte.*

* Eine der populäretymologischen Erklärungen für die Herkunft des Wortes "chav" - tatsächlich kommend vom Romani-Wort "chavi", das "Kind" bedeutet - behauptet nicht zufällig, die Bezeichnung habe was mit den EinwohnerInnen von Chatham zu tun. Schließlich ist diese Stadt am nördlichen, ehemals industriellen Ende von Kent mit ihren längst aufgelassenen Docks und ihrem von einer mehrspurigen Stadtautobahn erwürgten Zentrum ein Symbol für den Niedergang der britischen Working Class und hoffnungslose Armut in Trainingshosen.

Billy Childish, damals 49, sagte folgendes: "Chav ist ein Wort, das wir immer verwendeten. Es bedeutete 'Freund'. Wir sagten auch 'a right chavi'. Und das konnte irgendwen bezeichnen, egal wen. Aber diese moderne Version des Chav ist was anderes... Meiner Generation Chav stehe ich nahe, den modernen Chavs nicht. Deren Einstellung ist: 'Ich habe recht, and I'll do what the fuck I like.'"

Billys Definition war Teil seiner Antwort auf meine Frage, wo er sich selbst sehe, zwischen der Welt der kunstsinnigen Guardian-LeserInnen, die seine Kunst entweder kaufen oder schlecht machen, und den Chavs von Chatham, die ihn als Person akzeptieren aber als Künstler ignorieren.

Er meinte weiter: "Der Guardian-Leser ist genauso. Er ist genauso bereit zu kämpfen wie der Chav. Wenn man liest, was die im Guardian schreiben, dann spürt man ganz stark die unterdrückte Aggression. Vielleicht haben also die Chavs wenigstens noch eine bessere Verbindung zu ihren Emotionen, auch wenn sie negativ sind. Aber beide Gruppen sind gleichermaßen süchtig danach, ihr Leben in einer Fantasiewelt zu verbringen."

Was Childish anspricht, ist das für das von Owen Jones angesprochene linke Bildungsbürgertum wohl frustrierendste Element der Chav-Kultur, nämlich die ihr innewohnende MTV-Cribs-SchauerInnen-Mentalität, die gänzlich unsolidarische Sehnsucht nach dem Irgendwann-einmal-selber-stinkreich-werden. Der Erfolg der Dämonisierung der Working Class liegt nicht zuletzt auch in ihrer Selbstverleugnung.

Denn selbst wenn sie auch in der Vergangenheit verachtet wurde, pflegte die britische Working Class vor der "Wir sind jetzt alle Middle-Class"-Ära von Thatcher, Major und Blair (mit ihrem Ausscheideprodukt der sogenannten Underclass) einen erheblichen gemeinschaftlichen Stolz. Typischerweise fällt mir als Illustration für dessen Verlust die Sprachlosigkeit des Chavs in der Popkultur ein.

Sicher, es gab heuer "Ill Manors", den modernen Protestsong (das Album, den Film) von Plan B, in dem Ben Drew sich die Figur des zornigen Chav aneignet. Und es gab davor schon The Streets mit einem ähnlich chav-lastigen, aber unzornigen Konzept. Was sowohl Drew als auch Mike Skinner dabei reproduzierten und glorifizierten ist allerdings die Figur des Chav als - wenn auch mit Empathie dargestellter - Nichtsnutz.

Um eine positive sozial-realistische Selbstdarstellung der britischen Working Class zu finden, muss man dagegen ganz schön weit in der Popgeschichte zurück blättern.

Die aktuelle Wiederveröffentlichung von "The Gift", dem letzten Album von Paul Wellers Band The Jam hilft dem Gedächtnis auf die Sprünge. The Jam waren nie die Lieblingsband des Guardian-Lesers, schon gar nicht der Kritik, die sich über sie mokierte, gerade weil sie so Working Class waren, so weit entfernt vom intellektuellen Kunststudenten-Geist des Post-Punk, so wertkonservativ in ihrem Retro-Sound und in ihrer Neo Mod-Kleidung. Und doch waren sie damals 1982 - im dritten Jahr der ersten Regierungsperiode Margaret Thatchers - locker die populärste Band Großbritanniens, die Hausband der britischen Prolls.

Die Kernsongs von "The Gift" porträtierten sehr wörtlich das sich verschärfende Klima innerhalb der Working Class, aus dem Thatchers Kinder, die Eltern der heutigen Chavs, herauswachsen sollten.

Paul Weller, selbst Sohn eines boxenden Bauarbeiters (seinerseits auf dem Album porträtiert als der von der schweren Arbeit täglich niedergestreckte "5 o'clock hero") sang im täuschend fröhlich swingenden Hit "Town Called Malice":

"Better stop dreaming of the quiet life / Cause it's the one we'll never know"

Die erste Zeile kündigt also bereits den Bruch an, den die konservative Revolution für seinesgleichen bedeuten wird. Eine Community in Auflösung, die Milchwägen verrotten im Hof der Molkerei.

"To either cut down on beer or the kids' new gear / It's a big decision in a town called malice"

Beim Bier zu sparen oder bei der Kleidung der Kinder, das ist eine große Entscheidung in einer "Stadt namens Häme".

Der Song ist Pop als jüngere Zeitgeschichte. Und dreißig Jahre danach klingt er schlichtweg erschütternd. Schließlich sind die Kinder der darin erwähnten Kinder die Chavs von heute. Und die big decisions gingen nicht in ihre Richtung.

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