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Irmi Wutscher

Gesellschaftspolitik und Gleichstellung. All Genders welcome.

23. 10. 2012 - 16:17

"Auf Rehwildjagd mit Jesus"

Eine Reportagensammlung über die weiße ArbeiterInnenschicht in den USA, geschrieben 2007 vom sozialkritischen Journalisten Joe Bageant.

Die Präsidentschaftswahlen in den USA kommen in Riesenschritten auf uns zu und die Frage ist, ob Barack Obama die Mehrheit halten wird können. Dabei ist jetzt schon klar: die weiße Unterschicht in den Südstaaten wird hinter den Republikanern stehen. Warum das so ist, versucht Joe Bageant in der Reportagensammlung "Auf Rehwildjagd mit Jesus - Meldungen aus dem Amerikanischen Klassenkampf" zu beantworten. Jetzt ist das Buch auf deutsch erschienen.

Winchester, Virginia

Der 2011 verstorbene, sozialkritische Journalist Joe Bageant war 2007, vor dem letzten US-Präsidentschafts-Wahlkampf, unterwegs in seiner Heimatstadt Winchester in West Virginia.

Winchester zählt zu den Orten in den Südstaaten in denen die Frage, ob Stonewall Jackson in der Schlacht von Chancellorsville von einer Pilzinfektion im Genitalbereich behindert wurde, genauso hitzig debattiert wird, wie die Lehren der Evolution, schärfere Waffengesetze, das Recht auf Abtreibung oder die Frage, ob Dale Earhardt Jr auch nur halb so gut Rennen fährt wie sein Vater. Die Gegend ist fest in der Hand von christlichen Fundamentalisten und Neokonservativen, durchdrungen von der düsteren ultraprotestantischen Grundannahme, dass der Mensch von Geburt an ein böses, wertloses Geschöpf verkörpert, das im Laufe seines Lebens sogar noch an Wert verliert.

Buchcover: "Auf Rehwildjagd mit Jesus" von Joe Bageant

VAT

"Auf Rehwildjagd mit Jesus" von Joe Bageant ist in einer Übersetzung von Klaus H. Schmidt und Ulrike E. Köstler im Verlag André Thiele erschienen.

Joe Bageant erzählt in acht Reportagen von der weißen Arbeiterschaft in den USA. Das sind die Menschen, die in den Fabriken von Rubbermaid Mistkübel herstellen oder im Supermarkt die Regale auffüllen, sich damit gerade so über Wasser halten können und wenig bis keine soziale Absicherungen haben.

Bageants zentrale These: Die Linken oder Liberalen haben keine Ahnung, wie die weiße Arbeiterschaft in Amerika tickt. Während die ArbeiterInnen umgekehrt ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Establishment haben.

Im Wertesystem eines Rednecks fungiert "faul" als die schlimmste Eigenschaft eines Individuums, - schlimmer als dumm, versoffen oder gemein, schlimmer als ein Lügner, Knastbruder oder Verrückter zu sein. Das absolut Schlimmste, was ein Redneck über jemanden sagen kann, ist "Er hat keine Lust zu arbeiten". […] Passend zu dieser Logik gelten gebildete Liberale, die Zeit haben zu lesen, ja so viel zu lesen, dass sie einem Buchklub beitreten, mehr oder weniger zwangsläufig als suspekt.

In seinen Reportagen besucht Joe Bageant eine Redneck-Truckerbar genauso wie eine SeniorInnen-Stadt. Er erklärt den Waffenfanatismus mit der Siedlergeschichte und warum ein Eigenheim so wichtig ist, selbst wenn es nur ein Wohnwagen in einem Trailerpark ist, den man mit einem überteuerten, nicht gedeckten Kredit abbezahlt.

Und er erklärt auch den Erfolg der christlichen Rechten, von denen viele ArbeiterInnen ihren calvinistischen Arbeitsethos genauso beziehen wie krude Ansichten über Abtreibung oder Homosexualität oder die Hoffnung auf einen theokratischen Staat, also einen, der nach biblischem Recht verfasst ist.

Sozialausgaben als "Ansprüche"

Vor allem geht Bageant aber der Frage nach, warum so viele ArbeiterInnen republikanisch wählen, obwohl das eigentlich ihren Interessen entgegensteht. Darüber spricht er mit ArbeiterInnen der lokalen Rubbermaid-Fabrik in Winchester, die sowohl Gewerkschaften als auch allzu hohe Sozialabgaben ablehnen.

Notwendige Sozialausgaben als "Ansprüche" zu diffamieren, zählt zu den gewieftesten Strategien, die die Rechte je ersonnen hat. Indem sie diesen Begriff über drei Jahrzehnte systematisch abwerteten, haben die Republikaner die Amerikaner mit viel Geduld dazu gebracht, ihn automatisch mit Faulheit zu assoziieren. [..] Nur notdürftig gebildet, wenig bis gar nicht informiert, aber mit großen Aufwand indoktriniert, glauben diese Arbeiter tatsächlich, dass kein Teil ihres Lebens in irgendeiner Form subventioniert sei. Tom jedenfalls hat seiner Meinung nach noch nie vom Gemeinwesen profitiert, denn Sozialhilfe war für ihn bislang kein Thema.

Die ArbeiterInnen, konstatiert Bageant, sind wütend auf das System, in dem sie arbeiten bis zum Umfallen und dabei jederzeit durch die Abwanderung der Firmen ins Ausland bedroht sind. Die Liberalen sind daran gescheitert, diese Wut für sich zu nutzen, während die Neokonservativen die ArbeiterInnen mit griffigen Slogans einfangen konnten.

In den Reportagen geriert sich Bageant als "einer von ihnen", als einstiges Arbeiterkind aus Winchester, das durch Bildung die Chance erhielt, dem Arbeiterschicksal zu entkommen und der jetzt einen anderen, linken Blickwinkel auf die Seinen wirft. So schreibt er auch in jovialem Ton und wirkt zumindest in der deutschen Übersetzung ein wenig anbiedernd umgangssprachlich. Vor allem bedauert Bageant das mangelnde Klassenbewusstsein der ArbeiterInnen, das heißt in diesem Fall, dass sie anstelle von Solidarität den Stolz stellen, keine Sozialhilfe zu empfangen.

Joe Bageant hat diese Reportagen 2007 geschrieben, also bevor die Wirtschaftkrise in den USA ausgebrochen ist. Vermutlich haben sich die Lebensumstände des unteren Drittels der Bevölkerung seitdem eher weiter verschlechtert, als verbessert.