Erstellt am: 28. 10. 2012 - 09:59 Uhr
Vlog #3 Der Teppich mit dem Sexmuster
- Viennale-Tagebuch fm4.orf.at/viennale
- viennale.orf.at
Ausgerechnet jene Süßigkeit, die ich gestern in Maskottchenform vorm Burgtheater stehen sehe und mit deren Beschreibung ich das gestrige Tagebuch beginne, begegnet mir im ersten Film des heutigen Tages, in "Somebody up there likes me". Everything is connected in the universe, so formulierte es Hushpuppy in"Beasts of the Southern Wild" und sie hat wohl Recht. Da steht das runde Naschwerk in grün, diesmal als handliche Freiheitsstatue verkleidet, auf einem Nachtkästchen. "Someboy up there likes me" verhilft mir zu einer neuen Faustregel: Wenn es in einem Film aus einem Koffer leuchtet, dann ist das ein Qualitätsmerkmal, siehe eben auch "Kiss me deadly" oder "Pulp Fiction". In der deadpan-humorigen Geschichte um einen jungen Mann namens Max Youngman (Keith Poulson), der äußerlich nicht altert, leuchtet und flirrt es mysteriös aus einem blauen Samsonite-Koffer heraus.
sxsw
In 5-Jahresschritten springt die launige Geschichte mit einer Vorliebe für schief gezogene Münder und Manierismen voran, erzählt von Liebe, Heirat, Scheidung und Tod. Entwickelt trotz hipsterischer Attitüde nicht diese Wauzi-artige "hab mich lieb"-Haltung, die ähnliche Filme gern an den Tag legen. Ein Trumpf dieses Films ist sicherlich Nick Offerman, der sich als Ron Swanson in "Parks and Recreation" in die Herzen und an die Facebookwalls der ganzen Welt gespielt hat.
Ron Swanson
Offerman lockert hier zwar die Mimikmuskeln, lacht sogar ab und zu und variiert die Bärte, um nicht allzusehr wie Swanson ausszusehen, doch auch als Sal liebt er den Alkohol, hat horrible Exfrauen und immer einen Ratschlag parat, der hanebüchen wie weise gleichermaßen ist. "Somebody up there likes me" ist ein Indiekuchen mit Ironieglasur, der aber die Dosis an Seltsamkeiten und Quirkyness weitaus besser zu dosieren weiß als viele andere. Alex Ross Perry, dessen Film "The color Wheel" letztes Jahr auf der Viennale zu sehen war, hat eine kleine Rolle. Ich sags ja, everything is connected.
sxsw
Room 237
When the movie ended, I could - literally - not walk erzählt "Somebody up there likes me"-Regisseur Bob Byington über seinen "Reservoir Dogs" Kinobesuch (und betont das literally bizarrerweise tatsächlich so wie Rob Lowe in "Parks and Recreation"). When the movie ended I could not get out of my seat erzählt eine Stimme aus dem Off im nächsten Film, der Dokumentation "Room 237", die sich den leidenschaftlichen und zahlreichen Interpretationen von Stanley Kubricks "The Shining" annähert. Vom Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern über Auseinandersetzung mit dem Holocaust bishin zur Lesart, den Film als Kubricks verschlüsseltes Werk über die von ihm inszinierte Mondlandung zu sehen.
Highland Park Classics
Eine meiner Lieblingsfilminterpretationen: "Drag me to hell" is really a film about a girl with an eating disorder
Die Stimmen, die einem die verschiedenen Theorien, Symbole und Subtexte leidenschaftlich vermitteln, bleiben stets im Off. Schlau und witzig zugleich verzichtet "Room 237" auf öde talking heads oder gar nachgestellte Szenen. Stattdessen nutzt es Filmszenen - von "Eyes Wide Shut" über Hitchcocks "Spellbound" - um Gesprochenes zu illustrieren. Wenn also zu Beginn jemand über seine erste Begegnung mit "The Shining" spricht, dann sehen wir Tom Cruise in "Eyes Wide Shut" vor dem Plakat stehen und das Kino betreten. So wird "Room 237" zur filmischen Collage, die hier nebenbei auch gleich praktisch anwendet, wovon die ganze Zeit gesprochen wird. Film ist soviel mehr als nur der Film. Film ist vor allem soviel mehr als das, was der Regisseur damit bezwecken wollte.
Highland Park Classics
"Toy Story 3" Regisseur Lee Unkrich ist auch ein "The Shining" Enthusiast und schreibt auf www.theoverlookhotel.com über den Film. Auch über das kürzlich aufgetauchte berühmte Originalfoto, das - mit einem reinretouchierten Jack Nicholson - am Schluss von "The Shining zu sehen ist. (Jetzt seh ichs erst, theoverlookhotel.com war ja heute FM4 Webtip! Everything is co...)
Der supere Subtext
Was man von den Theorien hält, spielt keine Rolle. Die herrliche Doku heftet sich an die Faszination des Kinos und zeigt an einem Beispiel, was ein Film auslösen kann, welche Subtexte er eröffnet, welche Interpretationen er ermöglicht. Für mich, die ich immer versuche, alles auf der Leinwand zu erblicken, einzuordnen, mir immer aufschreibe, welche Bücher, Plakate, Platten, Zeitschriften oder T-Shirt-Aufdrucke mir in Filmen untergekommen, ist "Room 237" wie eine Fahrt mit dem schönsten Karussell am ganzen Rummelplatz, während mir gebrannte Mandeln in den Mund fallen. Ich hänge an den nicht sichtbaren Lippen der Erzähler und schon während des Schauens der Doku beginnt sich der Blick auf "The Shining" zu ändern, ob man will oder nicht, ob man an den Interpretationen Gefallen findet oder nicht. Der Teppich mit der eingewebten sexuellen Botschaft, Dannys Pullover mit der Apollo-Rakete, das Poster an der Wand, der plötzlich fehlende Sticker an Dannys Tür. "Room 237" protokolliert die Leidenschaft des Interpretierens, die Unberechenbarkeit von Assoziationen und die Besessenheit, die ein Film auslösen kann.
Highland Park Classics
"Room 237" öffnet nicht nur die Tür zu Zimmer 237, sondern auch in die Welt, die wir für uns erschaffen, wenn wir im Kino sitzen. Oft sind das soviele Welten wie Zuseher. Die Möglichkeiten des Kinos gehen noch weiter, selbst wenn der Film zu Ende ist. Und dass eben Film soviel mehr ist als Film, das haben wir ja letztes Jahr im Rahmen des Viennale-Tagebuchs schon leidenschaftlich diskutiert. Hab ich schon erwähnt, everything is connected in the universe, zumindest aber im momentanen Viennaleverse.