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Pia Reiser

Filmflimmern

27. 10. 2012 - 11:02

Vlog#2 Wilde Kerle

Offene Münder beim ungezähmten "Beasts of the Southern Wild". Und ein bisschen schon auch bei Mathieu Amalric (und seinem Trenchcoat) in "Ihr werdet euch noch wundern".

Vorm Burgtheater steht Freitag Vormittag jemand in einem M&M-Kostüm und dieser roten Kugel wurde ein Gesicht angefertigt, dass man beim besten Willen nur als shitfaced bezeichnen kann. Und während ich shitfaced denke, wird mir klar, welches Mini-Klassentreffen ich gestern übersehen hab. Da schreibe ich noch, dass Rory Cochrane in Ben Afflecks "Argo" mitspielt und erst heute fällt mir auf, dass die beiden in einem meiner ewigen Lieblingsfilme "Dazed & Confused" mistpielen. 19 Jahre später also treffen sich O'Bannion und shitfaced Slater wieder. Und dieses High School Treffen geht noch weiter, läuft doch übermorgen "Killer Joe" mit Matthew McConaughey, der in "Dazed & Confused" als prinzeisenherzbefrisurter Langzeitschüler Bonmots in die flirrende Luft des letzten Schultages entlassen wurde.

Mit Resnais ins Theater

Potentielle Burgtheater-Abonnenten, die hoffentlich nie von dem roten Maskottchen, das vor dem ehrwürdigen Haus sein Unwesen treibt, erfahren werden, erspähe ich dann bei Alain Resnais' "Ihr werdet euch noch wundern". Wie herrlich, dass der Film, der sich ums Theater dreht, im Metrokino läuft, einem Kino, das einem Theater ähnelt und immer wieder aus einer anderen Welt zu sein scheint. Konsequenterweise rechne ich damit, dass sich mein Coffee-to-Go in Luft auflöst, als ich das Kino betrete, weil sowas hat hier in einem Universum aus Logenplätzen und Samtsitzen eigentlich nichts verloren. "Ihr werdet euch noch wundern" des inzwischen 90jährigen Regisseurs hat zunächst mal vier Elemente, an denen ich einen Narren gefressen habe. Erstens: Schauspieler, die sich selbst spielen. Zweitens: Theater als Thema. Drittens: Mathieu Amalric. Viertens: Mathieu Amalric.

Mathieu Amalric

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Ein Trenchcoat wie Alain Delon in "Le Samurai", eine Frisur wie Hugh Grant in "About a Boy". Mathieu Amalric.

Er also, der weltklasse Amalric findet sich mit Schauspielkollegen wie Sabine Azéma, Anne Consigny und Michel Piccoli im Haus ihres gemeinsamen Freundes Antoine ein, der soeben verstorben ist. Als letzten Wunsch hat er angegeben, dass seine Freunde sich in seinem Haus versammeln. Dieses Haus - oder eben der eine Raum, den wir sehen - ist ausgeleuchtet wie eine Bühne, das Theaterhafte steckt von Anfang an in Resnais Film. Der verstorbene Antoine hat sich etwas gewünscht, das vielen gleich die Haare aufstellen wird: Die versammelte Schauspielerriege soll sich ein Theaterstück im Fernsehen anschauen. Nicht irgendeines, nein, "Eurydice", das in den vergangenen Jahren mit den anwesenden Akteuren aufgeführt worden ist.

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Das Land der Phantome

Auf einem Bildschirm läuft nun seine letzte Inszenierung des Theaterstücks mit jungen Schauspielern und schon bald (was für ein Alptraum jedes Kinogehers) beginnen die Schauspieler vor dem Bildschirm ihre ehemaligen Rollen mitzusprechen. Resnais doppelt nun nicht nur die Zuschauersituation, in dem wir jemandem zusehen, der sich was ansieht, nein, er doppelt und verdreifacht auch das Stück und seine Figuren. Orpheus und Eurydike gibt es auf dem Bildschirm und in zwei Besetzungen davor. "Kehren wir ins Land der Phantome", meint der Zeremonienmeister zu Beginn und das ist auch eine wunderschöne Bezeichnung fürs Kino. Schön ist es auch zu sehen, wie sich nun diese Phantome im echten Leben der Figuren manifestieren, wie sie wieder zu ihnen werden und wie sich das Stück, gespielt von drei Generationen, neu zusammensetzt.

Zunächst bin ich ja leicht verwzeifelt, weil ich im Kinosaal nur hinten einen Platz bekomme und die Leinwand so weit weg scheint, wie Thom Yorke damals im Pariser Palais de Percy. Yorke und die Leinwand sind daumennagelgroß. Doch Amalrics Stimme, das Spiel mit den verschiedenen Ebenen und vor allem der eigentümliche Soundtrack von Mark Snow, aus dem ich eine Badalamenti'sche Verwunschenheit raushöre und der sich vor allem weniger im Ohr als in Bauch und Unterbewusstsein festsetzt, ziehen mich rein und überwinden diese ansich viel zu große Distanz zwischen mir und der Leinwand.

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Französisches Schauspiel-Gipfeltreffen

Irgenwann erscheint dann ein Schild, dass das Ende des ersten Akts verkündet. Die Schauspieler wetzen auf ihren Sesseln und wir im Kinosaal tun es ihnen gleich. Wie in der Theaterpause hüstelt man und räuspert sich und obwohl ich am Experiment Gefallen gefunden habe, hoffe ich, dass das jetzt nicht bis zum Ende so weitergeht. Da beginnt auch schon der zweite Akt in gleicher Manier und ich spüre eine unausgesprochene, leicht nervöse Frage im Raum schweben: Wieviele Akte hat dieses verdammte Stück? Es werden vier sein und ich werd zwischendrin die Geduld verlieren, seltsamerweise für die Theatersprache, für die ich ansich ein Faible hab.

Resnais Bilder, die die Künstlichkeit hier umarmen, die Räume aus dem Nichts auftun, Menschen ein- und ausblenden und in denen grelle Scheinwerfer von oben die Haartrachten geradezu leuchten lassen, brennen sich ein. Räume wie Bühnen, eine Leinwand, die sich manchmal zum Split Screen teilt und dann läuft da Amalric mit dem Trenchcoat mit dem aufgestellten Kragen gleich doppelt herum. Für den 90-jährigen Alain Resnais ist dies hier wohl auch ein Gruppenfoto von jahrelangen Kollaborateuren und das Einfangen französischer Schauspielkunst, eingewickelt in die alte Geschichte um Liebe, Tod, Abschied nehmen und sich erinnern.

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Indie Autobahn

Ist es noch Mumblecore, wenn die Figuren ihren Hintern hochkriegen und tatsächlich losfahren, anstatt nur darüber zu reden, fragt sich C. nach "Pearblossom Hwy". In Mike Otts Film driften wurzel- und elternlose Figuren durch den Tag und die Trostlosigkeit eines Vorortes von Los Angeles. Hauptfigur Cory wirkt wie ein erwachsener Reece aus "Malcolm in the Middle", dem man die Komik weggenommen hat. Er wär gern Rockstar, er möchte in eine "Reality Show" und er möchte Kontakt zu seinem Vater haben. Ott mengt der Geschichte ein Videotagebuch von Cory unter, das Schauspieler Cory Zacharia aufgenommen hat, er verwischt die Grenzen zwischen Inszenierung und Realität. Ich ertappe mich, dass ich nur auf Formales achte, dass ich diesen zu einem Geräusch, welches ich nicht identifizieren kann, getakteten Schnitt mag, der immer wieder auftaucht und die Bilder, wie Anna durch die Nacht wandelt. Aber ich und Mumbelcore - oder wie man es nun auch nennen mag - wir werden keine Freunde mehr.

Cory Zacharia, Atsuko Okatsuka

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Wilde Kerle

Vom Pearblossom Highway bieg ich dann voller Vorfreude ab in den Süden der USA, bleibe aber beim amerikanischen Independent Film. "Beasts of the Southern Wild" ist erwartungstechnisch nicht nur "this Viennale's 'Drive'", sondern auch Auftakt meiner kleinen Südstaateniale, die mit "Killer Joe" und "The Dynamiter" vollendet wird. Diese beiden Filme werden sich nun anstrengen müssen. Benh Zeitlins Debütfilm "Beasts of the Southern Wild" reisst einem mit zu einem sumpfigen Flussarm in Louisiana, abgekapselt vom Rest der Welt. Die Leute dort, die vor den Naturgewalten Angst haben und einen Damm erbaut haben, nennt man hier wahlweise "Memmen" (im Untertitel) oder "pussies" (im Originalton). Hier, in einem Pfahlbau, der von Rost und Holz zusammengehalten wird, wohnt die sechsjährige Hushpuppy (Quvenzhané Wallis) mit ihrem kranken Vater. Die Gemeinschaft hier hat nichts mit idyllischem Aussteigertum zu tun, es ist eine eigentümliche Gruppe, geprägt von viel Schnaps und einem rauen Umgangston. Hier heißt man Walrus oder Little Jo und das einzige, was man besitzt ist die Besonderheit dieses Ortes.

polyfilm

"Beasts of the Southern Wild" startet am 21. Dezember 2012 in den österreichischen Kinos

Mit Hushpuppy kreiert Regisseur Zeitlin eine einzigartige Figur. Ein Kind, das in einem dreckigem Unterleiberl und Gummistiefeln steckt, das sich Gedanken darüber macht, wie das Universum zusammenhängt und das Pragmatismus (If Dad is not coming back I'll start eating my pets), spielerische Neugier, Fantasie und unglaubliche Kraft (nicht in einem Pippi Langstrumpf-Sinn) in sich vereint. Ein Sturm wird kommen, das weiß man, aber man bleibt in "The Bathtub".

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Die Ochsen kommen

Als Hushpuppy vom Sturm hört und von schmelzenden Eiskappen, die vor Urzeiten eingefrorene Auerochsen in die Freiheit entlassen, ist sie überzeugt, dass diese kommen werden. Biester, die ihre Eltern fressen. Angst hat Hushpuppy nicht. "Beasts of the Southern Wild" ist poetisch und räudig, ein ungezähmtes Biest von einem Film, der einen mitreißt, auch deswegen, weil man überhaupt nicht weiß, wo und wie und ob überhaupt er enden will. Regisseur Zeitlin schafft einen Film, der sich wie ein wildes Getier aufbäumt und um sich schnappt, sobald man ihn kategorisieren will. Southern Gothic Elemente findet man darin ebenso wie die Realität der verheerenden Bedrohung durch Hurricanes im Süden der USA. Ein energetisches, wildes und unbeschreiblich schönes Stück Kino, dazu ein Soundtrack, als hätten Zach Condon und Arcade Fire eine Nacht lang mit der "Waltons"-Titelmelodie im Ohr Gumbo gegessen.

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Und sonst so?

Schon zwei Tage, fünf Filme und noch kein einziges Mal geweint, das muss ein Rekord sein. Das ist der zweite exzellente Film, in dem der Satz "There is a storm coming" fällt, den ich im Rahmen der Viennale gesehen hab (der andere war letztes Jahr "Take Shelter"). Nehme aber an, es ist zu früh eine Faustregel zu basteln. An alle, die gern hinten im Kino sitzen, erklärt mir warum, ich verstehs nicht.