Erstellt am: 3. 10. 2012 - 20:30 Uhr
Das Model und der Schäfer
Einen Spätzünder kann man Tilman Grottian nicht nennen. Und das, obwohl der diesjährige Wortlaut-Zweitplatzierte seinen 50. Geburtstag schon hinter sich hat. Aber der dreifache Familienvater hat schon einmal bei einem Literatur-Wettbewerb mitgemacht und ihn gewonnen. All das im zarten Alter von 12 Jahren.
Und worum's ging in dieser Geschichte? "Da hat eine Familie einen Ausflug an einen See gemacht und hat dort so einige merkwürdige bis unheimliche Erlebenisse gehabt. Die Natur hat sich nicht so verhalten, wie sie es erwartet haben. Und das hat dazu geführt, dass sie dann wieder alle fluchtartig ihre Sachen gepackt haben und nach Hause gefahren sind", erzählt der Autor im Gespräch.
Natur und Literatur
Bettina Vogeler-Grottian
Tilman Grottian ist ein sanfter Mensch. Eben einer, der seine Umwelt genau beobachtet. Einer, der dort geblieben ist, wo er seine Kindheit verbracht hat. In der Lüneburger Heide, in Norddeutschland. "Die Landschaft ist ein Gemisch aus Wäldern und Felder. Wir haben ein paar kleine Flüsse, aber insgesamt gibt es wenig Wasser. Ein bisschen karg mag's von außen erscheinen."
Bezeichnenderweise heißt seine Wortlaut-Geschichte dann auch "Heimaturlaub". Es geht um ein Castingshow-Model, das nach vielen Jahren in der Modewelt seinen Vater besucht. Der ist Schäfer und kocht immer noch am liebsten Kartoffeln mit Zwiebeln für seine Tochter.
- Wortlaut 2012 - der FM4 Kurzgeschichten-wettbewerb: Alle Geschichten zum Thema.
Die Gewinner/innen 2012
- Platz 1: Tim R. Zazzara für "Mit Milch"
- Platz 2: Tilman Grottian für "Heimaturlaub"
- Platz 3: Didi Drobna für "Zwischen Schaumstoff"
- Platz 4-10: Die großen 10 von Wortlaut 2012
Sie zog den Trolley durch die Schlaglöcher und das faule Laub über den Hof. Fasste an die Türklinke. Aus dem Haus schlug ihr der altbekannte Geruch entgegen. Nur eine Spur feuchter. Altes Fett und gebratene Zwiebeln. Sie ließ den Koffer im Flur stehen und ging um das Haus herum. Er stand auf der Wiese über ein Schaf gebeugt, das er auf den Rücken gedreht zwischen seine Beine geklemmt hatte. Ein Messer zwischen den Zähnen, war er dabei, dem Schaf die Klauen
mit Blauspray einzusprühen.
– Ah, sagte er, – da bist du ja schon.
– Ja, sagte sie, – der Zug war pünktlich.
– Das hatte ich befürchtet, lachte er, – und deswegen gleich Erwin gefragt, ob er dich abholen kann.
Er schubste das Schaf auf die Beine. Unsicher stand es auf seinen beschnittenen Klauen und schien nicht recht zu glauben, dass es noch einmal mit dem Leben davongekommen war.
– Moderhinke, nickte er. – Kommt doch immer wieder durch.
Luftschacht Verlag
Aus nächster Nähe
Tilman Grottian will aber weder das Land- noch das Stadtleben kritisieren. Ihm geht es um einen Dialog. Und der wurzelt in seinen eigenen Beobachtungen, ist gewachsen aus Menschen, die er kennt oder gekannt hat. "Die meisten Geschichten, die ich schreibe, die sind mehr oder weniger auch in diesem Milieu angesiedelt. Das ist ein Milieu, das mich umgibt. Daher interessieren mich schon die Menschen, die so sind oder so ähnlich sind, wie der Vater. Weil ich die kenne."
Und auch das Model, dem die Zwiebelkartoffeln des Bauern-Vaters nicht mehr schmecken, hat seine Heimat in der Lüneburger Heide. "Ein Mädel aus dem Dorf hat tatsächlich mal in dieser Castingshow von Heidi Klum mitgemacht, was bei in der Heimatzeitung dann auch ziemlich gehypt wurde."
Tilman Grottian schreibt unaufgeregt und sanft. Allerdings ohne die Aussage seiner Geschichte abzuschwächen. Auflösung gibt es natürlich keine. Die gibt es im Leben gewöhnlich ja auch nicht. Von den Gedichten, die er während seiner Teenager-Zeit schreibt, ist der Autor mittlerweile abgerückt. Da hat seine Geschichte schon mehr mit seiner Arbeit an regionalgeschichtlichen Projekten zu tun. Auch in "Heimaturlaub" geht es ihm darum, das Leben in seinem Ort, in seiner Heimat festzuhalten und zu vermitteln.
Eigentlich war ihr der Appetit vergangen, aber sie zwang sich, wenigstens zu probieren und stellte fest, dass die Kartoffeln schmeckten wie früher. Also aufessen und nicht mehr über Geld reden.
– Ach ja, sagte er nach einer Weile und kratzte sich am Kopf. – Wo wir schon mal dabei sind –
– Was denn, fragte sie.
– Die Jahreshauptversammlung. Das Essen auf der Jahreshauptversammlung bezahle ich auch. Also – das heißt. Du ja eigentlich – Sie ließ die Gabel fallen.
– Das ist jetzt nicht dein Ernst? sagte sie. – Füllst das halbe Dorf einmal im Jahr ab, mit meinem Geld – und lebst selbst wie auf 'ner Müllkippe?
Er warf einen raschen Blick zur Spüle, kratzte sich
am Kopf.
– Du weißt einfach nicht, wie das hier ist, sagte er schließlich.
– Das weiß ich sehr wohl. Wie du dich vielleicht erinnerst, bin ich hier aufgewachsen. Ich weiß, wie es hier ist.
– Das weißt du nicht, sagte er. – Dich haben sie doch nach diesem Casting-Zirkus gleich drüben behalten. Da warst du doch noch 'n ganz junges Ding.
– Ja und? Was hat sich hier denn schon groß geändert?
– Hast du auf der Fahrt durch den Ort nicht aus dem Fenster geguckt?
– Sogar Erwin hat gesagt, dass sich hier nichts getan hat.
– Aber Erwin hat dir sicher auch gesagt, dass es hier nicht mal mehr 'ne Kneipe gibt.
Sie schwieg.
– Während du da drüben auf irgendwelchen Laufstegen den Arsch geschwenkt hast, ist hier nämlich alles den Bach runtergegangen.
– Und was hat das damit zu tun, dass du dir nicht wenigstens 'ne Geschirrspülmaschine anschaffst?
– Du lebst da drüben dein Leben. Und wir leben hier unseres. Und diese Scheiß-Feuerwehr ist nun mal fast das Letzte, was hier noch halbwegs funktioniert.
Mit seinem Gespür für Menschen und Orte, mit seinen intelligenten Texten und ihrem eleganten Stil, könnte Tilman Grottian ein großer Chronist des nördlichen Deutschlands werden. Aber was heißt könnte. Ist er ja eigentlich schon. Und ein guter Schriftsteller obendrauf. Das Talent dazu hat er ja. Und die Lebenserfahrung auch.
Tilman Grottian live
Der Zweitplatzierte Tilman Grottian liest seine Kurzgeschichte "Heimaturlaub" im Rahmen der Buchpräsentation im phil (Gumpendorferstraße 10-12, 1060 Wien) am Freitag, den 5. Oktober ab 20 Uhr. Dort werden auch der oder die Dritt- Erstplatzierte ihre Geschichten lesen. John Megill legt feine Tunes auf, Claudia Czesch moderiert. Hinkommen lohnt sich - der Eintritt ist frei!
Bei der Lesung wird auch das offizielle Wortlaut-Buch 2012 vorgestellt mit den besten zehn Texten.
Luftschacht Verlag
The Winner is...
Wer den ersten Platz von FM4 Wortlaut gewonnen hat, erfahrt ihr am Donnerstag in der FM4 Homebase zwischen 20 und 21 Uhr.
Die oder der Erstplatzierte wird vor der Lesung am Freitag, den 5. Oktober live in FM4 Connected zu Gast sein.