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Alex Wagner

Zwischen Pflicht und Kür

4. 10. 2012 - 20:20

Transsexualität, Sadomaso und Geldfetisch

Tim R. Zazzaras Kurzgeschichte "Mit Milch" will mehr, als nur Tabus brechen. Wegen seiner Vielschichtigkeit wurde der Text zum Sieger des FM4 Kurzgeschichtenwettbewerbs Wortlaut gekürt.

  • Wortlaut 2012 - der FM4 Kurzgeschichten-wettbewerb: Alle Geschichten zum Thema.

Die Gewinner/innen 2012

Hohe Weidenbäume, Engelsstatuen und Grabsteine. Tim R. Zazzara will sich mit mir am Friedhof im bayerischen Regensburg treffen, unweit der Universität. Mit Jeansjacke, weißem Wollpulli und Mütze wartet er vor den steinernen Torbögen. Hier am Friedhof ist er häufig, denkt nach und lässt sich von der Ruhe inspirieren. Viele seiner Geschichten, sagt er, handeln vom Friedhof oder spielen in diesem Setting. Heute findet er einen Automaten für Grabkerzen interessant. Auch über den könne man eine Geschichte schreiben, mit genügend Fantasie.

Der 28-Jährige heißt eigentlich nicht Tim R. Zazzara. Mit dem Pseudonym will er seine Autorentätigkeit strikt vom privaten Leben trennen. So kann er seine Ideen frei, ohne gesellschaftlichen Zwang zu Papier bringen. Sein Pseudonym spielt dabei auf seine zweite Herkunft an. Tims Mama ist Italienerin, er hat selbst monatelang in Italien gelebt.

Tim R. Zazzara, Autor und Wortlaut Sieger 2012

FM4 / Alex Wagner

Hier geht es zu Tim R. Zazzaras Gewinnertext "Mit Milch".

Wortlaut 12 - Der FM4 Kurzgeschichten-wettbewerb

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DER STANDARD

Der Standard

In Regensburg hat Tim Slawistik und Politikwissenschaften studiert und abgeschlossen. Nun will er weg. Irgendwo einen Job finden, der ihn ernährt und nebenbei viel Zeit und einen freien Kopf fürs Schreiben haben.

Das Schreiben empfindet Tim als anstrengend. Während der Tätigkeit durchlebt er alle möglichen emotionalen Gefühlszustände. Manchmal lacht er laut auf, wenn ihm etwas gut gelungen ist, meistens überwiegen aber Frust und Trauer. Dann flucht er laut auf - ein Grund, warum er nur allein schreiben kann und will. Es wäre ihm peinlich, wenn ihn jemand hören würde.

Tim R. Zazzara ist Perfektionist. Wieder und wieder überarbeitet er seine Texte. Im Durchschnitt mehr als zwanzig Mal. Jedes einzelne Wort überprüft er dabei und fragt, ob es das richtige ist und an dieser Stelle sinnvoll ist. Trotz dieses Kraftakts ist er mit seinen Geschichten nie zufrieden. Erst, wenn ihm andere gutes Feedback auf seinen Text geben, kann er sich halbwegs damit abfinden. In Regensburg ist er deshalb im Lesezirkel Salamander zugange. Dem ist es zu verdanken, dass Tim seine Kurzgeschichte bei Wortlaut überhaupt eingereicht hat.

"Mit Milch"

Die Kurzgeschichte "Mit Milch" ist Tims erste Veröffentlichung - und wurde sofort mit dem ersten Preis bei Wortlaut ausgezeichnet. Guter Schnitt! "Mit Milch" handelt von einem männlichen Ich-Erzähler, der vom Geschäftsmann Frazek aus seinem lethargischen Alltag gerissen wird. Frazek stiftet ihn an, Geld zu verdienen und führt den Ich-Erzähler in die SM-Szene ein. Fortan trägt der Ich-Erzähler Frauenkleider, schminkt sich und lernt im Sprechkurs, wie er seine Stimme weiblicher klingen lässt. In seiner Rolle als "Domina Jasmin" schreibt er Männer an, chattet mit ihnen und macht sie via Webcam heiß. Er will, dass ihm diese Männer Geld überweisen, ansonsten droht er mit harten Strafen. Geld-Fetisch heißt diese Neigung, die es nach Tims Aussagen auch im realen Leben gibt.

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Er ist vor Jahren beim Surfen im Internet darauf gestoßen und war sofort fasziniert von dem Gedanken, dass man für eine virtuelle Beziehung reales Geld überweist und einem Menschen, den man in Wirklichkeit nie gesehen hat, so viel Macht über sein eigenes Leben einräumt, sich Befehle erteilen lässt. Tim begann in SM-Foren zu recherchieren und mit Männern, die eine solche Neigung haben, Kontakt aufzunehmen. Da ihn das Thema nicht mehr losgelassen hat, musste er es zu Papier bringen.

Neben dem larmoyanten antikapitalistischen Ich-Erzähler und dem Zuhälter Frazek spielt noch eine dritte Person in der Kurzgeschichte "Mit Milch" eine tragende Rolle: Rita, die eigentlich Jürgen heißt. Anders als Frazek und der Ich-Erzähler, die sich nur wegen des Geldes als Frauen ausgeben, hat Jürgen ganz andere, persönliche Motive. Er steckt im falschen Körper, will zur Frau werden. Ironischerweise schafft Jürgen es nicht, so weiblich zu wirken wie der Ich-Erzähler, und die einseitige Bewunderung beginnt.

Wer jetzt meint, Tim R. Zazzaras Kurzgeschichte bemühe sich lediglich, alle möglichen Tabus auf kurzem Raum zu brechen, der denkt zu kurz. Seine Vielschichtigkeit macht den Text erst stark. Denn eigentlich thematisiert die Geschichte auch das Verlorensein des Ich-Erzählers, losgelöst von der Welt und ohne Anschluss und basale Motive wie zum Beispiel, ob er irgendwann wieder Freunde im Leben finden wird. Und zwar ganz ohne moralische Bewertung seines Handelns.

Der Soundtrack zur Kurzgeschichte

  • Nine Inch Nails - "The Fragile"
  • Sigur Rós - "Glósóli"
  • Radiohead - "Pyramid Song"

Die Bewertung der Jury

Die Geschichte ist schräg, ist kurzweilig, zieht das absolut Irre konsequent durch - von Anfang bis Ende. Hat aber auch eine absolut überzeugende Emotionalität drinnen.

Queer, schwul, faul, rätselhaft, gender-bonding. Geschlechtsangleichende OPs, die aber nur Kulisse sind auf einem Selbstfindungstrip. Sehr schön.

Es ist ein Text über Außenseiter, ganz virtuos geschrieben und virtuos auch komponiert. Die Sprache hat mir da wahnsinnig gut gefallen, und die Mehrdimensionalität. Also für mich ist es ein makelloser Text.

Ich hab ihn zuerst ziemlich überdreht gefunden, ich hab ihn insgesamt drei Mal gelesen und beim dritten Mal war ich sehr überzeugt davon. Beim ersten Mal habe ich gedacht "Oh my God...". Das heißt, der Text braucht einfach Zeit. Das "Oh mein Gott", war mein Fehler und nicht der Fehler des Textes und ich fand's schön, dass er sich erst nach und nach erschlossen hat.

Es ist für mich puncto Kunstfertigkeit der beste Text.

Sehr souveräne Sprache.

Tim R. Zazzara live

Der Wortlaut-Gewinner Tim R. Zazzara liest seine Kurzgeschichte "Mit Milch" im Rahmen der Buchpräsentation im phil (Gumpendorferstraße 10-12, 1060 Wien) am Freitag, den 5. Oktober ab 20 Uhr. Dort werden auch die anderen Gewinner_innen ihre Geschichten präsentieren. John Megill ist an den Musikreglern, Claudia Czesch moderiert. Hinkommen lohnt sich - der Eintritt ist frei!

Bei der Lesung wird auch das offizielle Wortlaut-Buch 2012 vorgestellt mit den besten zehn Texten. Das Wortlaut-Buch ist ab sofort im FM4 Shop erhältlich.

Wortlaut Lesung flyer

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