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Pia Reiser

Filmflimmern

23. 10. 2011 - 12:16

Vlog#3 Busen Bein Po

Mit dem 81-jährigen Frederick Wiseman im Nachtclub: Runter in den Bauch des Pariser "Crazy Horse", ein Film über Begehren und Körper.

Die Zukunft findet ohne mich statt, ich krieg keine Tickets für Miranda Julys "The Future" und sattle um auf "Crazy Horse", eine Dokumentation von Frederick Wiseman, dem König der Dokumentationen, dem unermüdlichen Porträtierer der Institutionen: Schulen, Gefängnisse, das Ballett der Pariser Oper. Aber sagt niemals cinéma vérité zu ihm, das ist in seinenAugen zwar nicht french for bullshit, aber zumindest ein pompous French term that has absolutely no meaning as far as I'm concerned.

viennale

Körper und Begehren

Eine Neonschrift in Pink eröffnet "Crazy Horse" und schließt titeltechnisch nahtlos an "Drive" an, Viennale, du hast es faustdick hinter den Ohren. Wiseman ist kein Demaskierer und doch steht seinem Film etwas wie ein Fingerzeig voran: Nachdem wir einen Schattenspieler mit seinen Händen Tiere an die Wand werfen sehen, zeigt uns Wiseman einen stöhnende Frau in einem Tonstudio. Behalte das im Kopf, flüstert mir der Film zu, denk bei dem, was du auf der Bühne des "Crazy Horse" siehst, die Täuschung, die Inszenierung mit. Die Macht des Körpers ist der Kern dieses Films.

Das "Crazy Horse" sieht sich selbst als stilvolle Institution, was die Tradition der Nacktrevue betrifft, und zieht seit 1951 ein Publikum an, das ungefähr zu einem Drittel aus Frauen besteht. Das ist nicht Gogo- oder Poledancing und schon gar kein Strip, das "Crazy Horse" beschwört eine anachronistische Form der Unterhaltung, irgendwo zwischen Burleske und Cabaret. Immer wieder zeigt uns die Kamera Bilder des Pariser Alltags auf den Straßen, als Erinnerung, wo und vor allem wann wir uns befinden. In den tageslichtlosen Souterrain-Räumen des Clubs verliert man die zeitliche Orientierung. Gleichzeitig kontrastieren die Bilder eines grauen Pariser Alltags den glitzernden Pomp, der im "Crazy Horse" stattfindet.

viennale

Say no to no

10 Wochen lang hat Wiseman im "Crazy Horse" gedreht und das zu einem Zeitpunkt, da ein kleiner Umbruch bevorsteht: Die Show wird neuinszeniert, die Nerven des Regisseurs Philipp flattern. "Say no to no" steht auf einer Postkarte an einer Riesenpinnwand, vor der Philipp bei einer Besprechung sitzt und tatsächlich versucht Philipp es wieder, bittet darum, den Club für ein paar Tage zu schließen. Aber es heißt wieder "Non", lässt man ihm von den Shareholdern ausrichten. Schon wieder "Kunst gegen Businessplan", kommentiert Philipp und rauft sich die Haare.

viennale

Wiseman hat einen sehr genauen Rhythmus beim Schneiden seiner Filme und der vorantreibende Beat von "Crazy Horse" sind die Tanznummern, die zwischen geschäftlichen Besprechungen und Proben zu sehen sind. Sich räkelnde Körper, auf die Licht und Begehren projiziert werden. Fakejuwelenstringtangas, die glitzern, wackelnde Hintern, soweit das Auge reicht. Einige warfen Wiseman vor, sich hier allzusehr an den Pariser Popos zu delektieren, doch Wisemans Blick ist nur konsequent und negiert das voyeuristische Potential. Wenn einem von der Leinwand minutenlang nur ein Hintern entgegentanzt, wenn mein Blick also erzwungen wird, dann ist kein verstohlenes Spechteln mehr möglich. Wiseman hält nur die Kamera darauf, worauf auch das "Crazy Horse" den Blick lenkt, er verfolgt nur konsequent den Blick von dem, was er porträtiert.

viennale

Sachliche Nacktheit

Die Nacktheit ist hier ist sachlich, die Körper sind Werkzeuge. Selbst der Security, der eine Essenslieferung backstage bringt, ist ungerührt angesichst der sich dehnenden, halbnackten Frauen. Und: Das Körpebild hier ist erfrischend retro, die Kostümchefin, die passenderweise Fifi heißt, mäkelt an einem Stoff herum, weil er den Hintern zu knochig aussehen lassen würde, aber Hintern sollen rund sein. Während sie das erklärt, versucht Fifi einer Kleiderpuppe eine rote Fransenunterhose auszuziehen. Fifi zerrt und zieht und wird zum Gegenstück der sich so leicht ihrer Kleidung entledigenden Tänzerinnen auf der Bühne. Fifi ruft schließlich einen Jerome zu Hilfe.

Ali Mahdavi, der künstlerische Direktor, ist die Nervensäge dieses Films, einer, der stets betont, das hier sei die ultimative Schönheit, so wie in Filmen von Fellini, Fassbinder und Michael Powell. Der Kinosaal bebt vor Lachen. "There are no ugly women…only lazy ones." Ali Mahdavi und seine Ausführungen über Weiblichkeit, Schönheit und Feminismus wären eine eigene Doku wert.

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Ali Mahdavi

Wiseman, der nie Kommentare, Einblendungen oder gar talking heads verwendet, filmt Ali bei einem Interview mit einem Kamerateam. Wenn Ali bei Gesangsaufnahmen zu einem neuen "Crazy Horse" Song begeistert mitsingt, wenn D-E-S-I-R buchstabierend gesungen wird, wie schwer es ist, die Kunst der Burleske mit dem Jetzt zu verschränken. Herausgerissen aus der samtbestuhlten Umgebung des Clubs wirkt das alles albern und dämlich. Ebenso die Astronautennnummer, wo sich zwei Frauen - nur mit riesigen Plastikhelmen bekleidet - begegnen. Das Cabaret scheint eine Kunst zu sein, die sich der Modernisierung verwehrt, funktioniert als Retro-Reenactment besser als in der Neuinterpretation. Nur die Musik, die fügt sich gut ein, zu Antony wird hier ebenso getanzt wie zu Britney Spears.

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Film dreht sich um das Begehren, das wir der Leinwand entgegenbringen, das doppelt Wiseman mit seinen der echten Welt entrissenen Aufnahmen der Tanznummern und dekonstruiert mit Bildern vom Probenalltag gleichzeitig das Bild des Zaubers. Dokus über Themen, die einen eigentlich nicht so wahnsinnig interessieren, entpuppen sich tatsächlich meistens als Offenbarungen.

Und sonst so?

Wegen "Drive" spiele ich mit dem Gedanken, mich nur mehr Scorpio Reiser zu nennen. Für "Color Runaway Dog" hab ich leider keine Karte bekommen, heute geh ich zu "Carmen Jones", dass Nachos stinken, wurde mir von mehreren Seiten bestätigt und über "The Color Wheel" höre ich nur Gutes.