Erstellt am: 22. 10. 2011 - 11:59 Uhr
Vlog#2 Rasende Herzen
Kaurismäkis "Le Havre" hat abgefärbt, als ich am Vormittag vor die Tür trete, siehts da aus wie in Andre Wilms Nachbarschaft, da geht tatsächlich eine Frau mit Baguettes vorbei und der Gemüsehändler hat seinen Stand schon aufgebaut und will, dass ich auf ein Glaserl Most oder Wein meinen eilenden Schritt unterbreche. Ich hoffe den ganzen Tag über, noch einen Mann mit schwarzem Trenchcoat und Ananas im Arm zu sehen, leider vergeblich.
"RESERVIEREN GIBTS NED", im Künstlerhauskino grantelt ein Mann über Plätze, die besetzt werden, hinter mir macht jemand einen Kommentar, der "Friedl Kubelka" als Pointe hat, seine Begleiterinnen lachen. Gute Laune und Grant nur durch eine Sitzreihe getrennt, willkommen in Wien, willlkommen am zweiten Viennaletag, der für mich mit "The Artist" eröffnet wird, in dem die Augenbrauen der Frauen so dünn sind wie die Bärte der Männer.
Look who's talking
"The Artist" startet voraussichtlich am 27. Jänner 2012 in Österreich
Michel Hazanavicius schwarz/weiß-Stummfilm ist ein Film, der einen umarmt, herzt und kitzelt. Jean Dujardin, Stand-Up-Komiker und Schauspieler gibt hier George Valentin, Stummfilm-Star. Über den Hügeln von Los Angeles steht noch "Hollywoodland", es ist noch die Werbung einer Maklerfirma und noch nicht das Symbol für die Traumfabrik. Die rennt zwar schon auf Hochtouren, doch eine große Änderung steht bevor und die werden gerne belächelt, daran hat sich ja bis heute wenig geändert. Hans Hurch findet ja z.B. auch 3D immer noch kindisch und das, obwohl sich darin ja längst auch Wim Wenders und Werner Herzog ausprobiert haben. 3D wird nichts ablösen oder ersetzen, es ist einfach nur eine Erweiterung der Möglichkeiten, ein Spielplatz.
Das, was George Valentin in "The Artist" bevorsteht, war in der Tat eine Revolution: Die Talkies. Da vergeht dem Beau das Lachen. Dujardin wurde in Cannes als bester Darsteller gewürdigt, jeden Gene Kelly Lookalike-Wettbewerb würde er auch gewinnen und wie passend ist das auch, denn Kelly tanzte und sang sich durch "Singin' in the rain", einen Film, in dem ebenfalls Stummfilmmimen im Tonfilm scheiterten.
Ein Bärtchen trägt er wie Adolphe Menjou und ein verschmitzes Lächeln ist seine Antwort auf alles. Bis eben die talkies kommen, Valentins Abstieg beginnt, während die bezaubernde Statistin und Tänzerin Peppy Miller zum Star wird. "The Artist" ist bezaubernd albern und einfallsreich ohne naseweiß zu sein, eine Hommage, die zwar in alle Richtungen, von Fritz Lang bis Orson Welles, Kusshände austeilt, sich aber nicht mit reiner Nachahmung begnügt. "The Artist" ist eine herzpochende Liebeserklärung an das Kino, in einigen Momenten spiegelt die Leinwand quasi den Kinosaal, zeigt das Publikum in "The Artist", lachend, empathisch, hin und weg und würde man das tatsächliche Filmpublikum spiegeln, ich glaube, es wär der gleiche Anblick.
viennale
In zwei Szenen ist der Stummfilm kein Stummfilm und lässt Geräusche in den Saal und diese beiden Soundeinsätze sind von so großer Eleganz und Wissen um die Macht des Kinos, dass man klatschen möchte. Eine gekeuchte Schlusspointe schließlich ist von M. Night Shyamalanschem Ausmaß, der schönste und amüsanteste Aha-Effekt, der mir in letzter Zeit von der Leinwand entgegengelacht hat. "The Artist" ist ein Maßanzug von einem Film, ein ekstatisches Stück Kino, an dem auch Billy Wilder seine Freude gehabt hätte, weil Hazanavicius wie Wilder ganze Geschichten, Entwicklungen, Gefühlswallungen ohne Dialoge erzählen konnte. Hazanavicius spiegelt Valentins Niedergang u.a. in seinem Bart wieder. Die dünne Bartschnur wird zum Schnurrbart, als das Leben aus den Fugen gerät.
viennale
Kriegserklärung
Ich wollte eigentlich einen halben Kilometer Klopapier aus den Urania Toiletten mit in den Kinosaal nehmen, doch weil "The Artist" noch in meinem Kopf spukt vergesse ich drauf. Kaum ist es dunkel im Saal, wo "La Guerre est declaree" gezeigt wird, schießt es mir siedenheiß ein. Ich hab kein Tränentrockne- und Schneuzmaterial. "La Guerre est declarée" ist die Geschichte von Juliette und Romeo und ihrem kleinen Sohn Adam, bei dem im Alter von 18 Monaten ein Gehirntumor entdeckt wird. Das sind Filme, um die ich normalerweise Bögen mache.
Aber: Die Viennale bringt ja nicht nur Unmengen an Filmen, die man sonst nicht sehen würde, sie bringt einen ja auch dazu, sich Filme anzuschauen, die man sonst verpassen oder verweigern würde. Ich fasse mir ein Herz und werde belohnt. "La guerre est declarée" ist kein sentimentaler Film, es ist eine Kampfansage an das Arschloch namens Krebs und es ist die autobiografische Geschichte von Regisseurin Valérie Donzelli, die mit ihrem Ex-Freund Jérémie Elkaïm (der französische James Franco, ein James Frenchco vor dem Herrn) das Drehbuch geschrieben hat und die beide auch Varianten ihrer selbst im Film spielen.
Ohne Klischees erzählt Donzelli auch von Dingen, die andere Filme oft auslassen. Davon, dass man auf eine Party geht, obwohl das Kind im Krankehaus ist, dass man trinkt und lacht. Sich Witze erzählt. Die Krankheit wird hier nicht zum fadenscheinigen "Carpe Diem"-Katalysator, wie das andere Filme gern machen, sie macht aus Romeo und Juliette auch keine Superhelden. Der Umgang mit Sorge und Leid wurde noch nie so erzählt. Mit Pop.
viennale
Wut und Pop
Wenn Adam zum ersten Mal untersucht wird und Juliette draußen bleiben muss, läuft sie zu einem treibenden Beat durch die Krankenhausgänge, wenn Romeo von der Erkrankung seines Sohnes erfährt, bricht er auf der Straße zusammen und tritt gegen Wände. Der Film, der Frankreichs Beitrag im Rennen um den Oscar ist, ist so wütend wie seine Charaktere, findet aber in der Sorge um Adam Plätze für Schönes, für Glück, für Liebe. So unkonventionell und stur sich die jungen Eltern Ärzten und Vorschriften gegenüber verhalten, so eigensinnig pfeift auch der Film auf Konventionen und steuert so meinem Tränenmeer gegen.
Erzählstimmen fassen ab und zu Geschehnisse zusammen oder agieren gar wie ein Audiokommentar. Eine von Romeo und Juliet gesungene Nummer hebelt die grauenhaften Fakten kurz aus, ein Liebeslied, gehaucht in die Nacht, ein Liebeslied an die Knie und grauen Zellen des Anderen. Denn "La Guerre est declaree" ist auch eine Liebesgeschichte, die in Sachen Herzzereißerei in der "Blue Valentine"-Liga spielt. Ich schluchze immer noch, als der Abspann zu Ende ist und sehe rüber zu S., die - ebenfalls verheult - in einem Weckerlbröselmeer sitzt. "Wer nie sein Brot mit Tränen aß" schluchztmurmelt S. und wir wünschen uns eine Kooperation der Viennale mit einem Taschentuchhersteller, weil Dragée Keksi trocknen keine Tränen.
viennale
Dude where's your car
Auf die Tränen folgt knisternde Erwartungshaltung zwischen Leuten im Nacho-Rausch. Viennale goes Popcornkino und das steht ihr gut. "Drive" steht am Programm. Ein Film, wie wenn einem jemand auf beide Ohren haut, leicht in den Magen boxt und Eiscreme einflößt, ein Kaugummi mit Fruchtgeschmack und Glassplitter. Übersetzt auf facebookisch sind das ca. tausend kleine Herzsymbole. Nicolas Winding Refns "Drive" ist ein neonlichtdurchfluteter Film Noir, in dem Ryan Gosling als namenloser und wortkarger Stuntfahrer mit den Augenlidern auf Halbmast durch das nächtliche LA gleitet.
"Drive" startet am 27. Jänner 2012 in den österreichischen Kinos
Ein Synthie Noir, elektronische Musik flackert auf und reißt einen mit, ein tanzender Beat ist der Rhythmus zu dem das Herz von "Drive" schlägt. Kid, wie sein Chef (Bryan Cranston) in der Autowerkstätte Gosling nennt, übernimmt ab und zu Jobs als Fluchtautofahrer bei Überfällen. Als Kid eigentlich nur helfen will, gibts es Komplikationen und jede Menge Blut an der Tapete eines Motels. Der Getaway driver ist plötzlich Vollzeit damit beschäftigt, davonzukommen. I just drive ist einer der wenigen Sätze, die Kid auskommen und genau so ist es. Der stoische solitary man in der Satinjacke mit dem aufgenähten Skorpion ist inmitten einer Vendetta.
viennale
Die weiteren Rollen sind grandios besetzt - von Cranston über Carey Mulligan bis zu Ron Perlman - doch Gosling überscheint alles in dieser Ode an die Nacht, in der jeder Wimpernschlag sitzt. Mit einem Zahnstocher im Mund gleitet Kid wie ein heißkalter Engel durch LA. You gotta do what you gotta do und dabei fließt eben manchmal Blut. Ein Kuss und ein Gewaltakt waren schon lange nicht mehr in einer derartigen Eleganz miteinander verflochten. Elegant, lakonisch, brutal und ohne jegliche Ironie hat Refn ein glänzendes Stück Film geschaffen. Da sind sich alle einig bis auf Sarah Deming aus Michigan, die dabei ist, die Verleihfirma von "Drive" zu verklagen, weil sie vom Trailer in die Irre geleitet wurde und "Drive" nicht das "Fast and the Furious"-Spektakel war, das sie erwartet hatte. Wir anderen können auf der Landkarte der Awesomness gleich den nächsten Halt einzeichnen, Joseph Gordon-Levitt ist im Gespräch für Quentin Tarantinos "Django Unchained".
constantin film
Mein Herz rast nach "Drive", in meinen Ohren rauschts, ich stolpere hinaus in die Herbstkälte, der Kaurismäki-Gemüsemann ist immer noch da und will mir jetzt Schnaps andrehen - gegen die Kälte - ich frag mich, wie das weitergeht, wenn jetzt alle Viennale-Filme meine Umgebung einfärben, öffne die Wohnungstür - und ihr werdet es nicht glauben, aber ich schwöre, es stimmt - da sitzt H. mit einem Zahnstocher im Mund.
Und ihr so?
Wie war "Koi no tsumi"? Warum stinken Nachos so erbärmlich? Wieso haben alle so einen Stress in den Kinosaal zu kommen, um dann hinten zu sitzen? Warum können manche Leute nicht flüstern? Gehts euch gut?