Erstellt am: 6. 6. 2011 - 18:35 Uhr
Und täglich grüßt das Matrixtier
Als Army-Pilot Colter Stevens (Jake Gyllenhaal) das erste Mal erwacht, schreckt er von der Bank in einem Zug in Chicago hoch, ihm gegenüber eine Frau namens Christina, deren Handy-Klingelton Chesney Hawkes' "The one and only" ist. Sie scheint Stevens zu kennen, lächelt ihn an und sagt „I followed your advice - it was good advice“. Sie nennt ihn Sean, was auch auf dem Ausweis in seiner Geldtasche steht und wenn Stevens sich schließlich auf der Zugtoilette in den Spiegel schaut, blickt ihm da ein Fremder entgegen. „Everything is going to be ok“, kann die junge Frau noch murmeln, dann fliegt der Zug in die Luft. Und er erwacht ein zweites Mal.
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Als Colter Stevens das zweite Mal erwacht, schreckt er in einer dunklen Kapsel hoch, eine Frau lächelt ihn von einem Monitor an und sagt "You are with Beleaguered Castle. Are you functional?". Das ist nun in der Tat noch krpytischer als die Sätze von Christina im Zug. Die Frau am Monitor stellt sich als Officer Goodwin (nomen est omen) vor und erklärt Folgendes: Er sei Teil eines Programms namens „Source Code“. Bei einer Zugexplosion sind hunderte Menschen ums Leben gekommen und er könne mittels „Source Code“ in den Körper eines der Mitreisenden schlüpfen und dessen letzte acht Minuten wieder und wieder erleben, um den Attentäter zu finden, der bereits weitere Bombenattentate angekündigt hat. Und so erwacht Colter Stevens schließlich das dritte Mal; wieder als Sean im Zug und versucht in wenigen Minuten den Täter zu finden, um sich nach der Explosion wieder in der schwarzen Kapsel zu befinden und Informationshappen abzuliefern.
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Fahl, verschwitzt, fahrig, bärtig der Isolation und Technologie asgeliefert ist Jake Gyllenhaal, genauso wie schon Sam Rockwell in Duncan Jones’ eindrucksvollem Regiedebüt „Moon“. Und beide Protagonisten müssen die bittere Erfahrung machen, dass Ich wiedermal ein Anderer ist. Duncan Jones vermengt die Idee einer konstruierten Realität wie in „Matrix“ mit der „Inception“-Idee, dass man in das Bewusstsein eines Anderen einsteigen can: Your mind is the scene of the crime, hieß es bei Christopher Nolans High Concept Thriller und Ähnliches gilt auch für „Source Code“.
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Don't be it, dream it
Unterbewusstsein, parallele Realitäten, Traumwelten sind Schauplätze dieser Filme, die Genregrenzen neu ausloten und Platz für neue Kinomythen schaffen. Die Leistung des Geistes ist wichtiger als die des Körpers, Körper werden in obengenannten Filmen immer mehr nur Mittel zum Zweck, denn plötzlich, als wäre Andre Hellers Mantra wahrgeworden, finden auch in Hollywood Actionfilmen die wahren Abenteuer im Kopf statt. Das ist nicht nur insofern interessant, dass in Mainstream-Filmen Theorien zu Realitäts- und Identitätskonstrukte angerissen werden, sondern auch, dass sie das Bild des Actionhelden stark verändert haben. Die Zeiten der auftrainierten Muskelkörper sind vorbei, um glaubhaft den Helden verkörpern zu können, braucht man keine Statur wie Schwarzenegger, van Damme oder Bruce Willis. Was man nicht im Bizeps hat, hat man im Kopf. Körperliche Kraft ist weit weniger wichtig, als gewisse Informationen oder was man damit anzufangen weiß; genaugenommen sind Körper in „Source Code“ teilweise nur mehr Transportmittel für Informationen. Eine von der digitalen Welt besessene Gesellschaft lässt ihre Körper zurück und die Phantasien mit sich durchgehen. Konstruiert Identitäten unabhängig von der tatsächlichen echten Existenz.
Let's do the mind warp again
Leider hat „Source Code“ nicht die visuelle Imposanz von „Moon“, der seine Wucht durch die Einheit des Schauplatzes und schlichte, sterile Sets schaffte. Jones’ zweiter Film ist auch weit versöhnlicher als die düstere Elegie auf die Isolation und die Frage nach der eigenen Identität, die Sam Rockwell in "Moon" durchmachte. Doch er hat etwas, was vielen Thrillern fehlt: Schläue und Raffinesse. „Source Code“ war schonmal ausgefuchst genug, im Trailer noch nicht alle Twists anzudeuten oder gar zu verraten. Der schlauen Konstruktion des Films, der raffinierten Inszenierung und Montage der Déjà-Vus kann man sich nicht entziehen, man versucht fieberhaft wie Gyllenhaal zwischen all den Fremden im Zug den Attentäter zu entdecken. Nebenbei kann man sich außerdem am Gedanken erfreuen, dass Hitchcock wohl an der Konstruktion, dass ein Mann im Körper eines Anderen und noch dazu in einem Zug feststeckt, wohl seine Freude gehabt hätte. Auch, wenn Christina alles andere als eine eiskalte Blondine ist.
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"Source Code" läuft bereits in den österreichischen Kinos
Neben philosophischen Fragen, die in den Actionthriller eingewebt werden, macht "Source Code" auch von unzähligen Standard-Kino-Bausteinen, wie dem amerikanische Grundbedürfnis nach einer zweiten Chance, dem Glauben an die Möglichkeit, alles zu schaffen und aus jedem Schlamassel als besserer Mensch hervorzugehen, Gebrauch. Anders als viele "Matrix"-Nachfolger konzentriert sich "Source Code" nicht auf das Misstrauen der Welt gegenüber, die wir als "echt" annehmen, sondern lässt eine Hoffnung blühen, die in dem Genre eher selten zum Zug kommt. Die Technik und Maschinen müssen nicht immer zwangsläufig gegen uns sein.
An der Carpe-Diem- und "Schau, wie schön die Plastiksackerl im Wind fliegen"-Botschaft kommt Duncan Jones allerdings nicht vorbei, aber das ist nur die Kirsche auf dem Filmkuchen aus der Parallelwelt, der ansonsten vor Originalität strotzt und Jake Gyllenhaal aus der Versenkung der Schmach holt, in die er für mich mit „Prince of Persia“ versunken ist. Gyllenhaal gibt hier souverän den jungen Mann von Nebenan, der im Körper des Lehrers Sean zum Retter der Stadt Chicago werden muss und den gequälten, Colter Stevens in der dunklen Zelle, umgeben von undurchschaubarer Technik. Und dann schüttelt er auch noch – zwischen mehreren Reisen ins Ich und zahllosen Explosionen - eine Liebelei aus dem Ärmel. Go Gyllenhaal. Ähnlich wie Matt Damon in "The Adjustment Bureau" ignoriert er stur Fakten und Regeln und nimmt sein Schicksal selbst in die Hand. Die da oben können uns ja doch nicht davon abhalten, das zu machen, was wir wollen.
EMW
„Source Code“ ist erstaunlich bescheiden und unsensationslüstern in seiner Inszenierung, er fokussiert auf die Geschichte, nicht auf Effekte und arbeitet nicht auf den einen Shyamalan’schem Abrakadabra-Knall hin; es ist kein mindfuck-Film, aber exzellentes mindpetting.