Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Der Musterprozess als Richtungsentscheidung"

Claus Pirschner

Politik im weitesten Sinne, Queer/Gender/Diversity, Sport und Sonstiges.

3. 5. 2011 - 19:23

Der Musterprozess als Richtungsentscheidung

Ziviler Ungehorsam ist nicht kriminell. Das Urteil im Tierschützer-Prozess hat nach 14 Monaten befunden, was in einer Demokratie ohnehin außer Frage stehen sollte.

Gestern hat man im Justizministerium Martin Balluch nach seinem Freispruch empfangen und Bereitschaft signalisiert § 278 zu reformieren.

„Die Angeklagten sind Tierrechtsaktivisten, das hat das Beweisverfahren gezeigt“, sagte Richterin Sonja Arleth bei der Urteilsverkündung gestern am Wiener Neustädter Landesgericht. Laut der Richterin sind sie nicht Teil einer kriminellen Organisation. Und mehr hat sie nicht über sie feststellen können.

Der Tierschützerprozess auf FM4:

Martin Balluch im Interview nach dem vorläufigen Freispruch

Kein Ruhmesblatt für die Justiz: Strafrechtsexpertin Petra Velten und Verfassungsrechtler Heinz Mayer zum Tierschützerprozess

Tierschützer wieder in Freiheit: Connected-Interview mit Martin Balluch

Tierschützer vs. Polizei (Christoph Weiss)

Paragraf 278a (Arthur Einöder)

Rufe nach Reform der Paragrafen werden laut (Rainer Springenschmid)

Martin Balluch über politische Arbeit, Paranoia und die fehlende Diskussion über Tierschutz (Irmi Wutscher)

Im Zusammenhang mit Jagdsabotage, also wenn AktivistInnen Jäger beim Abschießen von Tieren hindern, erkennt die Richterin maximal Verwaltungsübertretungen. Sie zitiert den Tierschützer Martin Balluch, für den das unter zivilen Ungehorsam fällt. Und genau dieses ungehorsame Agieren von BürgerInnen - kleine Gesetzesübertretungen zu begehen, um Unrecht aufzuzeigen - ist ein zentraler Faktor in der Weiterentwicklung bzw. Garantie von Demokratie und Menschen- oder in diesem Fall eben Tierrechten. Wenn AktivistInnen mittels zivilem Ungehorsam gegen Tierquälerei auftreten, wenn sie dann wegen Tierquälerei und wegen der Gründung und Beteiligung einer kriminellen Organisation vor Gericht gestellt werden stimmt etwas nicht mehr. Denn, so ging die Furcht bei verschiedenen NGOs um, könnte der Paragraph auch bald gegen jede dem Staat oder der Wirtschaft unliebsame Organisation angewandt werden. Der Paragraph 278, ursprünglich als Handhabe gegen Mafia und Menschenhandel beschlossen, würde dann zum Repressionsinstrument gegen die eigenen Bürger.

Seit den Hausdurchsuchungen bei TierrechtsaktivistInnen und dem anschließenden Prozess ist der zivile Ungehorsam in Österreich massiv unter Druck geraten. Der gestrige Urteilsspruch war somit auch ein noch nicht rechtskräftiger Freispruch für zivilen Ungehorsam - ein spätes Anerkennen der Justiz der Legitimität dieser Form von Protest mit langer Geschichte. Es war ziviler Ungehorsam, als die schwarze Rosa Parks 1955 in den USA ihren für Weiße vorbehaltenen Sitzplatz im Bus nicht räumt und damit erfolgreiche Massenproteste der Bürgerrechtsbewegung auslöst. Es war ziviler Ungehorsam, als 1984 tausende Menschen die Hainburger Au besetzt haben, um die Zerstörung der Natur zu verhindern. Es war ziviler Ungehorsam, als im Herbst 2009 Studierende das Audimax in Wien besetzen und somit eine öffentliche Debatte über die Missstände an den Hochschulen auslösen.

demonstrantinnen halten ein schild, auf dem "nach dem prozess ist vor dem prozess" steht

Manfred Pessenlehner / APA

Der Grüne Justizsprecher Albert Steinhauser erstattet heute bei der Korruptionsstaatsanwaltschaft Anzeige gegen Mitglieder der SoKo Bekleidung wegen möglichen Missbrauchs der Amtsgewalt, falscher Beweisaussagen, Urkundenunterdrückung und Freiheitsentzug.

Die TierrechtsaktivistInnen haben mit zivilem Ungehorsam einen hohen Preis für etwas zahlen müssen, das sie nicht begangen haben (gemäß dem gestrigen, noch nicht rechtskräftigem Urteil). Die sechs Anwaltskanzleien haben den Angeklagten im Wiener Neustädter Tierschützer Prozess je bis zu 400.000 Euro gekostet. Das Verfahren hat die TierrechtlerInnen in den Bankrott getrieben, die meisten haben ihre Jobs verloren, sie und ihre Familien sind psychisch schwer mitgenommen. Der Vater eines Tierrechtsaktivisten hat sich im Zuge der Strafverfolgung seines Sohnes das Leben genommen.

Und noch ist es nicht ausgestanden: Die Staatsanwaltschaft hat heute Berufung eingelegt. Die Urteilsbegründung sei in vielerlei Hinsicht nicht nachvollziehbar gewesen, sagt ein Sprecher der Wiener Neustädter Staatsanwaltschaft, aber es sei noch nicht fixiert, dass die Berufung durchgeführt werde. Man wolle erst die schriftliche Urteilsbegründung prüfen. Von einer substanziellen Rehabilitation zivilen Ungehorsams kann jedenfalls erst die Rede sein, wenn das gestrige Urteil rechtskräftig. Und § 278 reformiert wird.