Erstellt am: 4. 2. 2011 - 10:18 Uhr
Transmedial 11: Piraten, Kapital und Liveness
Transmediale.11
Was ist Live? Ja, ich dachte auch, das sei eine reichlich doofe Frage. Aber irgendwie vergingen die zwei Stunden Diskussion darüber wie im Fluge. Es sprachen drei Ansätze: Im ersten wurde Live als ein Effekt von Medialisierung beschrieben. Erst wenn etwas in ein Medium abgespeichert werden kann, kann man von einer “Live-haftigkeit” sprechen. Das Theater der Griechen war nicht live.
“Live” entsteht durch einen Prozess und haftet weder dem Medium noch dem Inhalt an. Aber an was erkennt man Live? Schöner Dreh auf gestern: Der Verweis aufs Radio. Dort wird diese Problematik verschärft, denn das Radio hebe den Unterschied zwischen “Live” und “Aufgenommen” auf. Live, so die Folgerung ist eine Zuschreibung: Ein Medium fordert ein, als Live anerkannt zu werden, das Publikum muss diesen Claim akzeptieren und macht das Objekt damit “live”. Damit kann alles Live sein - auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstanden habe, warum wir überhaupt über “Live” reden - weil ich unvorbereitet ins Panel ging, dachte ich, die nächsten zwei Stunden ginge es um die Lebendigkeit von Systemen oder so. Aber Pustekuchen.
Zum Glück! Denn es wurde (zumindest in mir drin) immer interessanter. Ansatz Nummer zwei war gar nicht mehr phänomenologisch, sondern versuchte eine Kritik an der Durchmedialisierung der Welt (puha). Was nur so tut, als wäre es “live”, etwa die Second-Life-Konferenz, dem fehle so viel, dass je mehr “live”, also medialisiert/mediatisiert, desto größer das Verlangen des Publikums nach echtem Fleisch. Neue Technologien und damit neue Medien können über diesen Mangel mit dem Hype, der um sie herum gemacht wird, zunächst hinwegtäuschen - aber sie bleiben schal (ich erinnere hiermit an 3D-Kino und Virtual Reality). Blöd nur: Der ganze Planet wird medialer, “Live” wird gar nicht mehr kritisiert - alles wird unbefriedigender. Was es brauche, seien “imaginary media”, hypothetische Medien, die diesen Mangel nicht haben - die trotz “Live-haftigkeit” nicht unbefriedigtes Publikum hinterlassen.
Was dann in Ansatz drei zur Sprache kam - ausgerechnet mit Chatroulette. Ansatz drei fragt nach Privatleben. Technik kenne nur zwei Zustände: Privat und Öffentlich. Menschen kennen aber auch noch Intimität, Vertraulichkeit und Diskretion, also Abstufungen zwischen Private und Public. Doof nur, dass wir, je mehr wir auf Technik im Alltag setzen, diese Entweder/Oder annehmen - und damit etwa Intimität aufgeben müssen. Virtualität ermöglicht uns höchste Privatheit aber letztlich null Intimität. Es gibt genug Beispiele, die das sehr eindrücklich veranschaulichen.
allwelike.com
Was nun passiert: Kommunikation wird performativ. Es geht nicht mehr um Zustände unserer Verbindungen (das ist Intimität) sondern nur noch um Informationstausch.
Dass es aber einen Ausweg gibt, darüber sprach dann Ansatz drei mit Chatroulette. Die tolldreiste Frage: Ist Chatroulette ein ‘mediated space’ - ein nur in einem Medium existierender Ort? Hahaaaa: nein! Chatroulette-Gespräche sind nicht fortbestehend, sind nicht durchsuchbar, sie sind nicht wiederholbar uns sie haben kein unsichtbares Publikum (wie es etwa ein Chat-Archiv alles mit sich bringt).
Zum Beweis setzte Ansatz drei uns einen Screenshot eines Chatroulette-Gespräches (zwischen einem masturbierenden Mann und einer Verhüllten) vor und sagte: Wir haben gerade gegen die Regeln von Chatroulette verstoßen. Alle Intimität ist weg. Durch den Screenshot ist das Gespräch plötzlich fortbestehend, durchsuchbar, wiederholbar und es hat unsichtbare Zuschauer bekommen - zum Beispiel das Transmediale-Publikum. Was ist Live Was ist Live Was ist Live?!
Meine Verblüffung nutzte Ansatz drei dann dazu aus, noch eine spannende Frage zu reaktivieren: Wir sollten mal dringend über ein Leben ohne Privatsphäre nachdenken. Wenn jeder jeden kennt, gibt es keine klaren Grenzen mehr zwischen Privat und Öffentlich - auch wenn uns das die Technik (z.B. Facebook) aufzwängen will.
Mein Ausflug zur Piratenmode mit Ubermorgen.com, davon will ich morgen im Radio reden (und das Skript hier veröffentlichen). Kurz aber noch zu meinen beiden anderen kleinen Highlights: Christin Lahr sammelt Ausgaben von Karl Marx “Das Kapital” und überweist es sukzessive transformiert an das deutsche Bundesministerium für Finanzen. In ein paar Jahrhunderten könnten damit der deutsche Haushalt ausgeglichen sein. “Überweisung eines Cents mit 108 Zeichen aus "Das Kapital", ausgeführt als Spende, Geschätzte Dauer ca. 43 Jahre - Band 1-.
Was sie mir dazu zu sagen hatte, will ich morgen in einem Artikel ausbreiten (was zum Anhören). Begeistert war ich von der Klarheit ihrer Gedanken und ihrem schönen Witz, was aus diesem auch leicht albern hätte wirkenden Vorhaben etwas beeindruckendes machte.
Das andere war die tolle Film-Installation von Reynold Reynolds, die Secrets Trilogy, in der er Wissenschaft, Kunst und Menschlichkeit und Natur in einem seltsamen wuchernden Zeitrahmen einspannte (oder wie man das auch immer ausdrücken will). Auf dem vor dem Ausstellungsraum ausgestellten Stimmungsbarometer gab ich “joy” an. (Aber auch “arousal”, weil es ja nackte Haut zu sehen gab).
Reynold Reynolds
Und nur, weil ich jetzt diesen Text hier in Windeseile heruntertippen muss, verpasse ich das “Arab Shorts”-Kurzfilmprogramm zur Hälfte - und dabei habe ich mich so darauf gefreut. Oh, Transmediale, dein zweiter Tag hat Spaß gemacht!