Erstellt am: 17. 6. 2010 - 13:50 Uhr
Die Mär vom Melting Pot
Mit fast drei Jahren Verspätung bekommen jetzt die österreichischen Leinwände doch Besuch von "The Visitor"; aber man braucht schließlich auch einige Zeit, um sich einen deutschen Verleihtitel auszudenken, der in gleichem Maße irreführend und nichtssagend wie "Ein Sommer in New York" ist. Das hat Regisseur Tomas McCarthy, der sich mit "The Station Agent" indie-credibility und Sundance-Lorbeeren erarbeitet hat, nicht verdient.
Ich begebe mich da jetzt auf das dünne Eis der Spekulation, aber ich glaube für 2010 gilt die Faustregel: Ist in einem Film die Haupfigur College-Professor, kann gar nicht mehr so viel schiefgehen. Nach Larry Gobnik (A Serious Man) und George Falconer (A Single Man) machen wir nun Bekanntschaft mit Prof. Walther Vale, auch single und serious. Single allerdings nicht im Sinne des Familienstatus quo, Vale ist Witwer. Mit stoischer Mimik und unbeweglichen Mundwinkeln, Lebensfreude und Empathie in der Altgefühlesammlung entsorgt, alltagt er vor sich hin. Versucht als wenig talentierter Klavierschüler seine Frau in seinem Leben zu behalten, die Pianistin war. Das schreit szenariotechnisch alles nach einer Begegnung, die das Leben verändert. Gogogadgetto Isolations-Deeskalation. Regisseur Tomas McCarthy hat auch am Drehbuch für das Pixar-Wunder "Up" mitgeschrieben und in "The Visitor" ist man nach ein paar Minuten auch der Meinung, dass dringend ein rundliches, naseweises Pfadfinderkind an die Tür des Walter Vale klopfen sollte.
polyfilm / Visitor Holdings LLC.
Doch Vale muss nicht nach Südamerika reisen, um sich aus dem Resignations-Kokon zu befreien. Ein Kurztrip nach New York genügt, dort trifft er in seiner Zweitwohnung auf Zaineb und Tarek, denen die Wohnung von einem windigen Gauner weitervermietet wurde. Nach erstem Schreck und dreierlei Geschrei am Gang, lädt Walter die Senegalesin und den Syrer ein zu bleiben. Und ist darüber noch mehr überrascht als die beiden. Als Tarek verhaftet wird und ihm als illegalen Immigranten die Abschiebung droht, versucht Walther zu helfen. Und da steckt die Größe des Films. In der Zurückhaltung. "The Visitor" macht aus Walther nicht einen einsamen Kämpfer gegen das System, der schließlich mit einem herzerweichenden Plädoyer die steinernen Herzen der Einwanderrungsbehörde erweicht.
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Tomas McCarthy hat keinen message movie inszeniert, sondern einen Film über die Wandlung eines Mannes. Über ein Aufwachen, ein Kokon-Zerreißen. Dass dieses Aufwachen mit dem Erlernen der Trommel einhergeht, wär in einem anderen Film vielleicht zuviel der "Musik als universelle Sprache"-Metapher, funktioniert hier aber. Aus einem guten Grund und der heißt Richard Jenkins: Ein Schauspieler, der im Zucken eines Mundwinkels mehr schauspielerische Kraft hat als manch andere, wenn sie mit Medusenhaupt ausgestattet wären und jede Schlange ein Strasberg-Zerifikat in der Tasche hätte. Jenkins trägt diesen Film, da lässt man auch die Trommel-Metapher als Sichtbarwerdung seiner Wandlung und schließlich als Wut-Ventil durchgehen.
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"The Visitor" läuft bereits in den österreichischen Kinos
Auch deshalb weil sich "The Visitor" überall sonst zurücknimmt, weil hier mit Understatement und Pathos-Vermeidung erzählt wird. Weil von der Mär von New York als melting pot und von 9/11-Nachwehen mit Beiläufigkeit erzählt wird; wir werden nicht belehrt oder bekehrt. Der amerikanische Traum vom "Alles ist möglich" wird nicht bemüht. Und selbst die Ethnografie-Falle umgeht "The Visitor": Die Freundschaft zwischen Walther, Tarek und Zaineb lässt ihre Herkunft als Motor für das Kennenlernen außen vor. Es gibt nicht wie in so vielen anderen Filmen mit ähnlichen Szenarien die westliche Neugier, die ihre überhebliche Vormachtstellung nie ganz ablegen kann, dann irgendwann vor Stolz berstend drei Brocken der fremden Sprache lernt und sich aus Wissensfitzelchen über einen fremden Kulturkreis ein Wohlfühl/Gutmensch-Mäntelchen näht. Für derartige Sentimentalitäten ist in "The Visitor" kein Platz, der Schnitt schmeißt einem oft aus Szenen raus, in denen andere sich in geigenbefideltem Pathos suhlen würden. Hier wird höchstens getrommelt und das weniger aus Pathosgründen als aus Wut.