Erstellt am: 5. 3. 2010 - 16:43 Uhr
Bologna: Weder Zustand noch Gesetz
Europa wächst zusammen, und wo man den eigenen Wohnort und Arbeitsplatz (sofern einer zu finden ist) frei wählen kann, dort müssen auch Schul- und Hochschulabschlüsse vergleich- und anrechenbar sein. Das ist vernünftig.
1999 haben deshalb die BildungsministerInnen von 29 Staaten beschlossen, einen gemeinsamen Europäischen Hochschulraum entstehen zu lassen. Mit einer gemeinsamen (sprich: gleich aufgebauten) Grundstruktur aller Universitäten. Damit wer in Stockholm Forstwirtschaft studiert hat, das auch in Nizza allen klar machen kann. Damit ein halbfertiges Psychologiestudium aus Budapest in London nahtlos fortgesetzt werden kann. Das sollte alles möglich sein. Soweit die graue Theorie.
- Über den Bedeutungswandel an sich: Martin Blumenau über die Bedeutung von "Bologna" vor 1999
Die Entwicklung die mit dieser Ausrichtung auf einen gemeinsamen Hochschulraum in Gang gesetzt wurde, nennt sich seither "Bologna-Prozess", wie so vieles auf europäischer Ebene benannt nach der Stadt in der der Beschluss dazu gefasst wurde.
Ein gemeinsames System von (Ab-)Zeichen und Codes
Man gab sich damals etwa zehn Jahre Zeit zur Umsetzung. Bis 2010. Was es bis dahin (also bis heute) zu erledigen gab, war die Schaffung eines gemeinsamen Abzeichensatzes. Jede Universität sollte jedes Studium in drei Teilen anbieten. Im deutschen Sprachraum wurden daraus Bachelor, Master und Doctor of Philosophy (PhD).
Und: An einer Universität erbrachte Leistungen sollten für eine andere Universität durch die Einführung eines eigenen Punktesystemes bewertbar und damit anrechenbar sein. Deshalb gibt es die sogenannten ETCS-Punkte. Sie sollen einer fremden Universität zum Beispiel darüber Aufschluss geben, wieviel Regressionsanalyse wirklich in der Vorlesung "Einführung in die Regressionsanalyse" steckt.
Für Unis in Österreich bedeutet das einen grundlegenden Systemwechsel. Bisher hat man hier in "Semesterwochenstunden" gerechnet. Und da war das Maß einzig und allein die Dauer der Veranstaltung auf der Uni. Eine Lehrveranstaltung, die jede Woche einmal stattfindet und zwei Stunden dauert, bringt 2 Semesterwochenstunden. Egal ob Anwesenheitspflicht besteht oder nicht, egal ob am Ende ein kurzes Skript abgeklopft wird oder eine umfangreiche Arbeit geschrieben werden muss. Die neuen ECTS-Punkte beziehen sich aber (zumindest in der Theorie) auf den Aufwand der Studierenden. Der Idee nach müsste also eine wöchentliche Vorlesung, die wenig Aufwand erfordert, weniger Punkte bringen als ein gleichlanges Seminar.
Für große Studienrichtungen ist diese Umstellung ein oft unterschätztes Problem. Solange mit Semesterwochenstunden gearbeitet wurde, konnte man relativ einfach vielen Studierenden in Massenvorlesungen zu Stunden verhelfen. Abgesehen davon, ob das gut oder schlecht ist (und es ist nicht gut): Am Ende war das gleich viel wert wie eine aufwendige Veranstaltung mit nur 15 TeilnehmerInnen. Bei einer konsequenten Umsetzung des ETCS würde das anders ausschaun. Und entsprechend lautet dann auch die österreichische Lösung manchmal "konsequente Nichtumsetzung". Ein Blick ins Vorlesungsverzeichnis der Uni Wien verrät: Am Institut für Politikwissenschaft gibt es pro alter Semesterwochenstunde zwischen 0,5 und 3 ECTS-Punkte (Systemwechsel verstanden!), auf der Psychologie ausnahmslos 2, auf der Pädagogik 2,5 ECTS-Punkte, egal ob Vorlesung, Übung oder Seminar.
Holprige Umsetzung
EU
Das ist auch ein wunderschönes Beispiel dafür, dass die Probleme mit dem Bologna-Prozess zu einem großen Teil hausgemacht sind, und nur sehr bedingt damit zu tun haben, dass die Ziele von Bologna so böse wären. Ja, die sind neoliberal. Sie zielen auf eine bessere internationale Wettbewerbsfähigkeit. Sie sehen in Universitäten Ausbildungsstätten und wollen den Wert einer solchen Ausbildung durch eine Ausweitung des Geltungsbereiches erhöhen. Das ist Nutzenoptimierung von Humankapital.
Diese Ziele kann man natürlich aus ideologischen Gründen ablehnen. Man kann sie aber auch aus ideologischen Gründen gutheißen. Es ist eine gesellschaftspolitische Frage, wohin der Zug künftig fahren soll. In Richtung Bologna heißt in Richtung Neoloberalismus. Die stellenweise fast fahrlässig schlechte Umsetzung der Ziele des Bologna-Prozesses lenkt ihn dabei aber nicht um, sondern sabotiert die Fahrt.
Es ist ziemlich naiv zu glauben, man könnte Universitäten gleichzeitig organisatorische Autonomie verleihen (mit dem Ziel, sie würden sich spezialisieren, ein eigenes möglichst kantiges Profil verleihen und miteinander in einen qualitativen Wettbewerb treten) UND von ihnen verlangen, vergleichbare und qualitäts-normierte Abschlüsse zu liefern. Entweder sie sind gleich oder sie sind verschieden, so einfach ist das.
Die nationalen Vorgaben zur Umsetzung des Bologna-Prozesses pressen jahrzehntelang gewachsene Strukturen in ein enges Korsett an Regeln, mit denen das Hochschulsystem hierzulande keinerlei Erfahrung hat und gegen die es sich entsprechend zur Wehr setzt. Jetzt ist natürlich eine gewachsene Struktur nicht per se gut, und nicht jede Veränderung per se schlecht. Aber über zwanzig Universitäten bei einer so grundlegenden Systemänderung mit wenigen aber strengen Rahmenvorgaben und chronisch unterfinanziert im Regen stehen zu lassen, war sicher kein Lehrstück für einen geglückten Systemwechsel.
Das Ergebnis?
a) ein gewisser Wildwuchs an verschiedensten Studienplänen (auch für ein und dasselbe Fach an verschiedenen Universitäten), der sogar die Mobilität innerhalb der Unis in Österreich eher behindert als fördert,
b) ein Titelsystem, mit dem weder mögliche ArbeitgeberInnen noch Studierende etwas anfangen können (weil Erfahrungswerte fehlen) und
c) jede Menge Verunsicherung bei so ziemlich allen Beteiligten.
Bologna ist weder Zustand noch Gesetz
- Bologna Burns: Christoph Weiss über den 10-Jahres-Jubiläums-Gipfel, der dieser Tage (umgeben von jeder Menge Gegenveranstaltungen) in Wien und Budapest stattfindet.
Was 1999 in Italien losgetreten wurde, ist kein Gesetz. Österreich hat sich zu den Zielen von Bologna bekannt, allerdings freiwillig und von sich aus. Im Gegensatz zu vielen anderen Entscheidungen auf europäischer Ebene winkt kein internationaler Gerichtshof mit einer Verurteilung, wenn eine Verordnung nicht umgesetzt wird. Es gibt keine Zwang von oben, die österreichische Bildungspolitik will Bologna und setzt die Ziele nach eigenem Gutdünken in nationalen Gesetzen um. Und: selbst die Ziele von Bologna sind nicht in Stein gemeißelt. Nicht umsonst nennt sich die Sache Bologna-Prozess. Es gibt ein Ziel (einen gemeinsamen Hochschulraum), aber es geht um den Weg, um den Prozess. In Österreich hat man sich seitens der Politik über den Weg offensichtlich zu wenig Gedanken gemacht. Man hat die Ziele an die Unis weitergegeben, mit dem Auftrag, die halt irgendwie umzusetzen. Bei so einem Vorgehen ist nur eines sicher: Von 22 Universitäten werden mindestens(!) 21 nicht den besten Weg wählen.
FM4 Schwerpunkt
Bologna-Tage auf FM4 – FM4 zu 10 Jahre europäischer Hochschulraum
Vor einer Dekade wurde der Bologna-Prozess eingeläutet, um einen europäischen Hochschulraum zu schaffen. Zum Jubiläum treffen WissenschaftsministerInnen zu einer Konferenz in Budapest und Wien aufeinander, VertreterInnen der Studierenden halten eine Tagung in Wien ab und unibrennt-AktivistInnen rufen zum Gegengipfel. Auch auf FM4 werden unterschiedliche Aspekte des Bologna-Prozess beleuchtet, jeweils in Reality Check und Connected, von Mittwoch, 10.3. bis Freitag, 12.3.2010. Hier gibt es das FM4 Programm im Detail.