Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Journal '09: 30.12."

Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

30. 12. 2009 - 21:00

Journal '09: 30.12.

Durchdringende Momente eines namenlosen Jahrzehnts, Teil 7. Heute: So Berlin.

Durchdringende Momente eines namenlosen Jahrzehnts. Eine Serie zu den ausrinnenden Nullern.

Teil 1. Die messianische Erscheinung von Tricky.

Teil 2: New York Stories.

Teil 3: Repolitisierung. Attwenger. Kaklakariada.

Teil 4: Das beste Konzert aller Zeiten

Teil 5: Die Zukunft der Musik..

Teil 6: Blog as blog can.

Teil 7: So Berlin.

Teil 8: Vom Medienwandel und der g'fickten Jugend bis zum Joker Audimaxismus.

Berlin in den 70ern war Flucht- und Endpunkt: Bowie, Christiane F., die Mauer so kalt.
Berlin in den 80ern war Subkulturzentrum und versifft, zehnmal schlimmer als im Herr Lehmann-Film. Es war Neubauten-Hackes vergrätzt-verdreckte Füße, die er beim Abmischen auf den Studiotisch legen musste.
Berlin in den 90ern war Wachstumssschub, ungelenk und unsicher in der neuen Hauptstadt-Rolle.

Berlin im eben zu Ende gehenden, namenlosen Jahrzehnt war arm aber glücklich. Und Fluchtpunkt und Kreativzentrum und im Wachsen begriffen. Aber weil Berlin die einzigartige Inselrolle zwischen den Blöcken verlassen hatte, war es in diesen letzten Jahren auch Vorbild.
Und wurde Synonym für einen Lebensstil.
Im Guten fürs Improvisieren (deshalb auch in Österreich so populär) und fürs Nicht-Unterkriegen-Lassen; im Schlechten für die Selbstausbeutung und die Sache mit den Dauer-Praktika.
Eines tut Berlin allerding nie: Jammern (insofern ist es in Österreich noch nicht ganz angekommen).

Versifft, improvisiert, schnell

Ich war vergleichsweise spät dort, um mir diese neue Entwicklung anzuschauen, im Februar 04 und bin da eher wie Parzival durch immer noch recht versiffte Privatwohnungen, hingeschlonzte Räume und improvisierte Parties getrieben worden.

Dieses Berlin bedeutet: immer frisch zubereitet, auf dem Punkt, aber eben auch ein wenig getrieben und von der Hast nach dem richtigen Moment gestresst. Es bedeutet: unfertig, weil man eh schnell weitermuss.
Das ist so unfassbar das Gegenteil von Österreich, speziell Wien, dass man gar nicht anders konnte, als fasziniert zu sein.

Weshalb es in dieser Zeit auch dazu gekommen ist, dass man sich hierzulande orientierte. Das hatte auch mit der Krise zu tun, die das Stammlokal der Szene, das Flex im Frühjahr 2003 durchlebte, aber wahrscheinlich vorrangig mit der Globalisierung, der Internationalisierung von Lebensentwürfen, von jugendlichen und studentischen Biografien und der darin enthaltenen Sehnsucht nach Unfertigkeit.

Fluc Mensa, Icke Micke...

In jedem Fall waren sowohl die Fluc Mensa als auch der Club Icke Micke der konzentrierteste Ausdruck dessen, was ein Ausleben dieses für Wien ungewohnten Entwurfs von Tempo und Risiko, nach sich ziehen konnte: Da vereinte man das versifft-improvisierte und sein Talent so schamlos vergeudende Berlinische mit dem fadäugigen, in seiner glorios rezensierten Redundanz badende und sich auf seine Grundsubstanz verlassende Wienerische.

Der Lokalaugenschein 2009 fiel im übrigen wieder ganz anders aus.

Und für ein paar Jahre im Zentrum dieser Nullerl-Jahre war dieses Berlin-Feeling die wahrscheinlich erfrischendste neue Zutat im alten Suppentopf.
Ich möchte behaupten, dass Projekte wie dieses oder auch dieses ohne diese Erfahrung nicht möglich gewesen wäre.
Nicht nur weil sich darin der Wille zur Improvisation als Bindemittel zu einem breiten Publikum findet (was das sehr offene Berlin immer vom zu szenigen Wien unterschieden hat), sondern auch, weil die Poor&Happy-Ideologie da deutlicher zu tragen kommt als in den (bis dahin) oft zu imperial aufgesetzten Projekten mit österreichischem Flair.

So Berlin zu sein hat Österreich und vor allem Wien so gut getan, dass man es gar nicht mehr bemerkt, wenn man nicht genau schaut.