Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Journal '09: 24.12."

Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

24. 12. 2009 - 21:20

Journal '09: 24.12.

Durchdringende Momente eines namenlosen Jahrzehnts, Teil 1. Heute: die messianische Erscheinung des Adrian Thaws.

Sie könnte 10 magische Momente aus den Nullern oder Zeroes heißen, diese Serie über die Feiertage bzw. den Jahreswechsel.

Aber: ich habe keine Ahnung, ob es 10 Teile sein werden.
Und: magisch wäre wohl in mancherlei Hinsicht der falsche Ausdruck bei den Geschichten aus den Jahren 2000 bis 2009, die ich zu erzählen gedenke.

Sie werden oft mit Musik zu tun haben, was in krassen Widerspruch zur aktuellen Bedeutung dieser ehemaligen Leitkultur steht. Allerdings ist Musik eben ein guter Katalysator, ein Verdichter von Gefühlen, da kann die gesellschaftspolitische Relevanz noch so weggeschrumpft sein.

Außerdem war ich unlängst Teil eines Trialogs, der so ging -> Konzert-Werber vor der Karlskirche: You want to listen to some music? Tourist: No interest in music! Ich: No interest in music? Are you sure you're alive?!

Am 1. Juli des Jahres 2001 war ein sagenumwobener Mann zu Besuch in Wien. Tricky bestritt ein Konzert in den Wiener Sofiensälen.
Tricky, Adrian Thaws aus Bristol, England, hatte gerade "Blowback", sein sechstes Album veröffentlicht, vielleicht nicht sein bestes, aber wieder ein radikales. Und es markierte einen Aufwärtstrend. Denn seit seiner Trennung von Martina Topley-Bird hing der kleine wilde Mann künstlerisch ein wenig durch, nachdem er zwischen 95 und 98 vier unfassbare Alben gemacht und unseren Radiosender mit zehn bis fünfzehn nervenzerfetzenden Klassikern versorgt hatte; sein gemeinsames Frühwerk mit Massive Attack gar nicht mitgerechnet.

Für mich war und ist "Black Steel", Trickys Rework des Public Enemy-Stücks Black Steel in the Hour of Chaos immer noch das symbolträchtigste Stück der 90er: ein zutiefst kräftiges und wütendes und gleichzeitig die gesellschaftlichen Mechanismen aufzeigendes Anti-Kriegs-Stück aus den USA, das von einem innerlich dauerkochenden Briten kunstvoll und gleichzeitig reduziert umgearbeitet wird, mit einer weiblichen Gesangsstimme Distanz schafft und gleichzeitig wuchtet, als ginge es um unser Leben. Weil es ja auch um unser Leben geht in unserem Leben.

Tricky in den Sofiensälen

Mit dieser Zuschreibung und dem Wissen, dass Tricky weiß, worum es geht, bin ich in die Sofiensäle gepilgert. Die waren damals schon durchaus gezeichnet, ein krachiges, alterndes Gebäude, das durch viel Geschichte angeschlagen war. Der Hauptsaal hatte einen Holzboden, eine gar nicht so arg hoch erhobene Bühne und auch Erhöhungen auf den Seiten, wo sich Reste von Logen finden ließen. Der Main Floor (denn die Sofiensäle waren eine Ansammlung von Räumlichkeiten) hatte also etwas von einer Mulde.

Es war schweineheiß an diesem Tag, draußen sowieso und aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen (vielleicht funktionierten auch die Abzüge nicht mehr) auch drinnen. Da war es noch heißer. Schon ehe das Set losging, waren wir zumindest ordentlich durchgefeuchtet.
Die Mulde war voll, die Menschen drängten sich im Tal und an den Hängen, vorne und hinten, und der Schweißfilm auf jedermans Haut sorgte für ein problemloses Aneinandergleiten.

Durchdringende Momente eines namenlosen Jahrzehnts. Eine Serie zu den ausrinnenden Nullern.

Teil 1. Die messianische Erscheinung von Tricky.

Teil 2: New York Stories.

Teil 3: Repolitisierung. Attwenger. Kaklakariada.

Teil 4: Das beste Konzert aller Zeiten

Teil 5: Die Zukunft der Musik..

Teil 6: Blog as blog can.

Teil 7: So Berlin.

Teil 8: Vom Medienwandel und der g'fickten Jugend bis zum Joker Audimaxismus.

Dann kam Tricky samt Band, an die ich genau gar keine Erinnerung mehr habe. Der Mann selber stand vorne an der Rampe, vorgebeugt wie immer, eine kleine ausgemergelte, aber körperlich hochgespannte Gestalt und er war halbnackt, vielleicht von Beginn an, vielleicht auch erst im Lauf der ersten Songs. Tricky war durchaus in Bewegung, aber er machte nicht den Clown, sondern den Dompteur. Seine Aufforderungen, seine Kommunikation funktionierte über Gesten, Körpersprache und Blicke.

Körper in Wellenform

Nach ein paar Minuten hatte er den Saal im Griff und zwar nicht wie sonst bei großen Konzerten, bei denen man sich freiwillig in ein schönes Gefühl des Austausches reinwirft.

Tricky hatte uns gefangengenommen, egal was wir, das Publikum, wollten. Wir begannen uns in Wellenform zu bewegen, waren ein einziger schweißnasser, tosender Körper.
Der Holzboden im Zuschauerraum, vor allem der Teil in der Mulde, begann nach einiger Zeit zu wippen, weil dieser eine Körper sich rhythmisch bewegte. Es war, als ob wir auf dem Holz surfen würden über eine Welle, die sich drunter bewegt, auch wenn es vielleicht nur einen halben Meter hoch war.

Tricky hatte keine klassischen Trance-Tricks angewendet, es handelte sich um eine andere Verlorenheit, die Körper und Geist gleichzeitig trennt und vereint, und es uns so ermöglichte gleichzeitig in uns drin zu stecken und uns gleichzeitig von außen zu sehen.

Ich kenne mich zuwenig in der Kunst des Voodoo aus, denke aber, dass dieser schwitzende, kochende, das Material aus den Angeln hebende Konzertabend da näher dran war, als alles andere, was mir jemals widerfahren ist.
Natürlich hat auch die Hitze, das Japsen nach Luft, die Aufgabe des Körpers in einer klimatischen Extremsituation dazu beigetragen. Nach dem Konzert standen, hockten, saßen und lagen die Menschen ächzend und stöhnend herum, als wären sie eben durch ein vielstündiges Ritual gegangen. Weil sie das auch wohl waren. Sie lächelten aber alle.

Danach folgte der Brand

Ich will keine populären Mythen der Sorte "Angel Heart" strapazieren, dazu hatte die Messe, die uns Tricky da gelesen, nein, besser, eingeflößt hatte, zu wenig instrumentalisierendes Potential. Wir hatten keine Verkaufsshow erlebt, niemand wollte uns eine Ideologie oder sonst etwas Mystisches andrehen.
Obwohl: kurze Zeit später, am 16. August, brannten die Sofiensäle ab, ratzeputz, bis heute hat sich das Areal nicht erholt, schwelt zwischen Abriss und Neubau.
Und ich weiß noch, wie sich ironisches Gerede erhob, dass das kein Wunder sei - schließlich habe die fast schon selber brennende Messe des in rotem teuflischem Licht getauchten Tricky das schon vorausbestimmend definiert.

Noch ein paar Wochen später fielen Zwillingstürme in Manhattan.
Seitdem achte ich Tricky auf eine noch unbedingtere Weise als vorher. Vorher war er ein musikalischer Prophet des Neuen, nicht Aussprechbaren, nur Fühlbaren gewesen. Nachher war er mir Seismograf in vielerlei Hinsicht.

Der Erzengel in Wiesen

2003 kam Tricky wieder, diesmal nach Wiesen.
Und meine Metaphorik im damaligen Bericht ist bezeichnend: Lucifer.
Lucifer im freien Fall, zwischen Himmel und Erde, gefährlich wie ein großer Puppenspieler, der seine Instrumentierung zur Hypnose nutzt.
Und trotzdem hatte ich auch bei diesem ganz in blutiges Rot gehaltenen Konzert nicht eine Sekunde ein Gefühl der Angst, das sich sonst einstellt, wenn man denkt dem Teufel gegenüber zu stehen.

Denn so plump kommt Tricky nicht rüber.
Nicht in seiner Frühzeit, nicht als pumpender Publikumsbeschwörer in den Sofiensälen, nicht als gefallener Engel im dämonisch glänzenden nächtlichen Wiesen.

Danach tauchte Tricky ab, ehe er sich seit zwei Jahren wieder regelmäßig meldet. Ich habe ihn seither nicht mehr gesehen, es ist auch nicht nötig, die 01 und 03 verabreichte Dosis genügt mir, um ihn und den Rauch um ihn stets bei mir zu haben.

Natalie Brunner hat mir unlängst ein neues Interview mit ihm vorgespielt, einzelne besonders kraftvolle Zitate draus. Er würde am liebsten mit Gangstern zu tun haben, sagt er da einmal sinngemäß, die seien am ehrlichsten. Und er sagt es in dieser rauchigen und so grundwahren Stimme, die wieder etwas auslöst, als wäre ich ein von ihm programmierter Schläfer.

Die Augen der Martina Topley-Bird

Letztens war Martina Topley-Bird bei uns im Studio.
Die tritt ja jetzt bei Massive Attack als Gaststar mit auf. Als sie das Haus verließ, bin ich zufällig imselben Lift wie sie runtergefahren. Ich war überrascht, habe dann aber schnell irgendwelchen Smalltalk dahergeplappert, um einen Grund zu haben, ihr in die Augen zu schauen. Die Augen der Martina Topley-Bird haben mehr von Tricky gesehen, als wahrscheinlich viele ertragen würden. Abgründiges und Großartiges.

Die Augen der Martina Topley-Bird waren schön, ruhig und klar, wie eine Sternennacht. Sie lächelten nicht, um abzulenken oder zu beruhigen, sie strahlten aber auch keine Trauer oder gar Ärger ab, sie hatten die Festigkeit eines guten Handschlags.
Als ich dann auf der Argentinierstraße war, hat sich plötzlich wieder der Boden zu bewegen begonnen, in Schwingungen, sicher einen halben Meter tief.
Der alte Tricky hatte mich über diesen indirekten Draht wieder in die Welt geholt, deren Teil ich einen Abend lang war, die seitdem ein Teil von mir ist.

Ich kann verstehen, dass spirituellere (oder auch: leichter verführbare) Menschen, als ich es bin, ein vergleichbares Erlebnis als Erleuchtung abspeichern oder gar als messianische Begegnung preisen. Soweit werde ich nicht gehen. Ich sehe diesen Abend des 1. Juli 01 als rituellen Akt, der einen Anker in die Zukunft geworfen hat, als Begleiter mit düsterer Aura aber guten Mutes. Und ich lächle, wenn ich dran denke.