Erstellt am: 3. 10. 2009 - 12:34 Uhr
Nieder mit den Schwellen!
Wird das altbekannte Grau der Häuser und Straßen der Heimat mit kulturellen Hauptstadtsehren geadelt, steht man wie Forrest Gump vor der Schachtel Pralinen und weiß nicht, was man kriegt. Gut, das Linzer Auge als Antwort auf die Grazer Murinsel war vorsehbar, ebenso, dass bei der jährlichen visualisierten Klangwolke alles ein bisschen größer, lustiger und mehr werden würde. Dass ich ebenjene nicht miterleben sollte, weil ein von cleveren Architekten auf die Autobahnübertunnelung gestelltes gelbes Haus spannender war als Menschenmassen und Feuerwerk, erwischte mich aber kalt.
Ulli Lust
Das Bellevue war ein federführend von Peter Fattinger, Veronika Orso und Michael Rieper im Rahmen von Linz09 durchgeführtes Projekt.
Das "gelbe Haus" stand vom 25. Juni bis zum 13. September.
Jenes Bellevue geheißene Gebilde stand drei Monate an der Schnittstelle zwischen den Stadtteilen Bindermichl und Spallerhof und war viel mehr als die - in meiner knapp 20 Jahre dauernden Karriere als Linzer erste(!) - Gelegenheit auf ein gemütliches Bier in Gehreichweite. Es gab Musik, Diskussion, Artists in Residence, Austausch und Kontroverse, Sport, Spiel, bildende Kunst und clevere Projekte. Dieses Haus, oder besser: Forum zur "schönen Aussicht" belebte die Nachbarschaft. Wie sich das anfühlte und wie gut das funktionierte, kann man bereits umfassend bei Martin Blumenau oder Alexandra Augustin nachlesen. Mein Beitrag zum hohen Lied des Lobes seien hier also weniger sozialromantische Geschichten aus dem Nähkästchen denn der Versuch einer Ursachenforschung.
Vom Ende der Nachbarschaft
In unseren rasenden urbanen Lebenswelten sind Nachbarschaften im klassisch örtlichen, physischen Sinn praktisch nicht mehr vorhanden. Denn viel mehr als die Anschrift bestimmen Interessen, Hobbies und ausgesuchte Szenen den Großteil zwischenmenschlicher Auseinandersetzung. Diese Entwicklung verdanken wir ironischerweise durchwegs zu begrüßenden zivilisatorischen Fortschritten, schließlich waren es städtische Infrastrukturen, steigender Wohlstand und leistbarere Mobilität, die erst die vormals gegebene Notwendigkeit klassischer Nachbarschaftshilfe aufhoben und später die vergnügliche Möglichkeit eröffneten, ein ganzes soziales Leben mit Menschen zu füllen, die eben zu einem "passten". Von den diesbezüglichen Verheißungen des Internets ganz zu schweigen.
Bittere Kehrseite dieses vordergründigen Glücks ist eine fast zwingende Verengung des Horizonts, ein unbewusstes lebenslanges Planschen im eigenen Sud, wo man jeden kennt und alles seinen festen Platz hat. Diesem wohligen Bedürfnis nach einem konsenserfüllten Gesellschafts- und Kulturleben entgegenzusteuern, ist eine große Aufgabe. Dem Bellevue ist sie geglückt, nicht zuletzt durch das gekonnte Aufbrechen gewohnter Konventionen und Formalismen.
Ulli Lust
Nieder mit den Schwellen!
So unbeschwert wir uns des Schutzes persönlicher Daten mit Vorliebe nicht annehmen, so unantastbar ist die heilige Kuh Privatsphäre in der Realität des Alltags. Kaum den Reizen des aufrechten Gangs gewahr, wird dem bewegungsfreudigen Nachwuchs die Ehrfurcht vor der Hecke des Nachbarn gelehrt. Jedwedes in den eigenen vier Wänden vernehmbare Geräusch fremden Ursprungs kann legitim als Lärmbelästigung betrachtet werden und versehentliche Berührungen unbekannter Zeitgenossen verlangen ausnahmslos nach einer prompten, erschrockenen Entschuldigung. Vor allem aber ist es verpönt, außerhalb klar definierter und dafür vorgesehener Bereiche Mitmenschen in tatsächliche Gespräche zu verwickeln, also selbst aufzumachen, preiszugeben und gleichzeitig dem Gegenüber Substanz abzuverlangen.
Die größte Schwelle, die es zu überwinden galt, war also jene in den Köpfen. Dies tat das Bellevue vor allem, indem es knallig gelb war. Die alles beherrschende Signalfarbe wie die unkonventionell einfache, fast klobige Architektur befreiten Atmosphäre und Menschen von ansonsten unumgänglichen Formalitäten. Man hatte ein wenig den Eindruck, auf einem Spielplatz ohne Altersempfehlung gelandet zu sein, in einer kleinen Blase, wo ansonsten ehern trennende Barrieren wie die soziale Schicht oder das Alter auch ohne hintergründige Verlogenheit überwindbar schienen.
Die erste Schwelle allerdings, die ähnliche Einrichtungen fast obligatorisch ein bisschen von der Außenwelt abschirmt, ließ das Bellevue gar nicht erst entstehen. Denn so spannend herkömmliche Jugend- und Kulturzentren, Konzertsäle und Theaterhäuser auch sind, ganz selten kommen sie ohne Türe aus, ohne physisch abgrenzenden Eingangsbereich, der potentielle Besucher mit meist ungewollter Dringlichkeit zweimal überlegen lässt, ob sie die jeweilige Stätte der Kultur nun betreten wollen oder nicht.
"Will ich da wirklich hinein?", "Passe ich dazu?", "Wie muss ich mich drinnen verhalten?", "Kenne ich da jemanden?" - diese Fragen wirkten angesichts der breiten, weithin nach Aufmerksamkeit schreienden Front des Bellevue fehl am Platz. Gerade wenn sich bei den abendlichen Veranstaltungen die Besucherschaft teils auf zu Sitzgelegenheiten umfunktionierten Bierkisten großzügig über die dem gelben Haus vorgelagerte Wiese verteilte, hätte es grotesk angemutet, überhaupt so etwas wie eine Grenze definieren zu wollen.
Ulli Lust, Zeichnerin
1967 in Wien geboren, wohnhaft in Berlin.
Gründerin von electrocomics.com.
Bellevue Artist in Residence 17.08 - 23.08
Ulli Lust
Kein Mehrwert ohne Moderation!
Wenn wohlmeinende Stadtväter im Interesse der jedesmal aufs Neue verkommenen Jugend Skateparks und Fußballkäfige bauen, Biotope wie das Wiener Museumsquartier zulassen, ist das löblich und zu begrüßen. Gemessen am tatsächlichen Potential öffentlichen Raumes jedoch, ist das reine Angebot einer Infrastruktur viel zu wenig. Will man Zentren für lokale Szenen und Kultur schaffen, die nicht nur auf eine sehr spezielle Klientel beschränkt sind, die von einer breiten Mehrheit der Nachbarschaft als solche anerkannt und genutzt werden, ist eine ständige Moderation und kuratiertes Programm unumgänglich. Zu erwarten, dass Menschen zur Verfügung gestellten öffentlichen Raum ganz von selbst in ein blühendes Paradies der kulturellen und zwischenmenschlichen Auseinandersetzung wandeln, ist illusorisch. Erwachsene wie Jugendliche wie Kinder wollen und müssen abgeholt werden. Angestoßen, motiviert, unerwartet mit Neuem und bisweilen auch mit Grenzen konfrontiert werden. Dinge, die ohne ausgewiesene, ständige ModeratorInnen und KuratorInnen nicht möglich sind.
Kostenlose lokale Kultur ist ein Muss!
Kultur, deren Konsum und das dafür benötigte Geld bilden Partnerschaften, an die man nur ungern denkt, sitzt man verzückt der inneren Ekstase hingegeben im Dunkel des Zuschauerraums. Tut man es dennoch, so wird man einsehen, dass auch Bassisten beheizter Wohnungen bedürfen, und so ist Geld für Kunst ein legitimes Geschäft.
Die Problematik dieses Deals: Die Großmutter der Bezahlung ist die Affirmation. Nur in bemerkenswerten Ausnahmefällen sind Menschen bereit, Geld gegen Dinge zu tauschen, die sie nicht wirklich sehen oder besitzen wollen - wodurch ganze Kolonien von KünstlerInnen, deren Selbstverständnis sehr wohl auch in der nach außen getragenen Kontroverse und Auseinandersetzung begründet liegt, viel zu oft Eulen nach Athen tragen müssen. Und was der Bauer nicht kennt - eh scho wissen.
Es geht hier wohlgemerkt nicht um mehr von oben finanzierte Großprojekte wie das Donauinselfest.
Wer etwas zu sagen hat, soll eine gemeinhin anerkannte Bühne bekommen, die vom möglichen Besucher weder finanzielles noch sonst irgendein Engagement verlangt - abgesehen vielleicht von dem Willen, sich mit dem Gezeigten zu beschäftigen.
Die Möglichkeiten dieser Zwickmühle zu entkommen sind überschaubar und haben meist damit zu tun, die Aufmerksamkeit massenrelevanter Medien zu erregen. In Österreich also: Krone und ORF. Das ist insofern schade, als die meisten Menschen mit dem Bedürfnis, sich der unmittelbaren Außenwelt künstlerisch auszusetzen, dies mit einem dringenden, konkreten Anliegen tun, und nicht mit der vagen Zielsetzung, irgendwann einmal im Hauptabendprogramm Schulterklopfer abzustauben. Diese Anliegen auch dem "richtigen" Publikum, also der Nachbarschaft abseits der ohnehin wohlgesonnenen Heimatszene, zu vermitteln, kann nur gelingen, wenn das ansonsten bereits übliche Verhältnis Kunde/Dienstleister - wie im Bellevue erfolgreich vorgeführt - tunlichst vermieden wird.
Ulli Lust
PS
Es ist ein Jammer, dass eine Einrichtung wie das Bellevue nur im exklusiven Rahmen von Linz09 als Kunstprojekt Realität wurde, und nicht österreichweit Institution ist. Was derartige Foren an Stelle de facto toter Volkshäuser hinsichtlich Integration, lokaler Szenen, Jugendkriminalität, generationenübergreifendem Diskurs und Nachbarschaftshilfe leisten könnten, sprengt Vorstellungskräfte und eher nicht die Budgets der für Infrastruktur und Kultur zuständigen Ministerien.